Schlummernde Schätze – Monatsgewinner*innen neu entdeckt: Über die Nacht schreiben, ohne sie zu nennen

Tief unten im lyrix-Ozean ruhen schlummernde Lyrikschätze, die nur darauf warten (wieder)entdeckt zu werden. Kai Gutacker, Autor und ehemaliger lyrix-Preisträger, taucht für uns hinab und stellt Gedichte aus dem Meer unserer lyrix-Monatsgewinner*innen vor. Im Dezember 2009 sollte über die Nacht geschrieben werden. Die Herausforderung war groß, denn schließlich haben die Stunden zwischen Tag und Tag schon viele berühmte Gedichte inspiriert, Wanderers Nachtlied von Goethe ist da nur ein Beispiel. Einen ganz besonderen Zugang zu diesem Thema hat Swaantje Wilcken aus Bremerhaven gefunden.


von Kai Gutacker

aus dem Fenster geblickt

Swaantje Wilcken im Dezember 2009

sie wirft dunkle Flecken auf das Pflaster und sammelt schlaflose Augen, die
ihr hinter Glas folgen.

steckt sie
in einen Samtbeutel,
bevor sie
die Straßenseite wechselt.


tritt ins Laternenlicht
und verschwindet
zwischen Gullistangen.

Ein Gedicht über die Nacht, in dem das Wort Nacht überhaupt nicht vorkommt, mag auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinen. Ohne das zugehörige Monatsthema zu kennen, gibt es bis auf das Laternenlicht nur wenig Anhaltspunkte, um wen es sich bei dieser mysteriösen „Sie“ handeln könnte. Doch gerade das macht den besonderen Reiz von Swaantje Wilckens Gedicht aus – das Kernthema selbst bleibt gewissermaßen im Dunkeln.

Die Nacht sammelt die Augen desjenigen ein, der sie beobachten will, und hindert ihn so daran, die Dinge klar zu erkennen. Dann verschwindet die „Täterin“ im Nichts, bevor die Person am Fenster wissen kann, wie ihr geschieht. Obwohl wir nichts Näheres über diese Person erfahren, erfährt der Leser den Zustand der Blindheit aus ihrer Perspektive. Dabei bleibt sie allerdings völlig passiv, allein durch den Titel wissen wir, dass sie am Fenster steht. Denn der handelnde Protagonist ist in diesem Gedicht die Nacht selbst.

Dass die eigentlich wohlbekannte Umgebung nachts auf einmal fremd und unheimlich wirken kann, ist in der Lyrik ein bekanntes Thema. Aber anstatt dieses Gefühl mit Worten auszuformulieren, drückt es Swaantje Wilckens in der Vagheit ihrer Bilder aus. Gerade indem sie sie nicht benennt, lässt sie der Nacht viel Raum für das Geheimnisvolle und Unerklärliche.

Kai Gutacker
Kai Gutacker, 1990 in Frankfurt am Main geboren, war lyrix-Preisträger 2008, 2009 und 2010. Er studierte Deutsche und Europäische Literaturen sowie Kulturwissenschaft in Berlin. 2014 nahm er an Juri Andruchowitschs Lyrikprojekt „Erfundene Dichter“ teil. Im August 2016 erschien sein erster Erzählband „Nacht auf die Handfläche“ im Verlag Das Wunderhorn. Derzeit arbeitet er an seinem Romandebüt.

Kai Gutacker

Schreibe, um zu träumen.