lyrix gratuliert: Das sind die 12 Jahrespreisträger*innen der zehnten Wettbewerbsrunde

Yeah! Es ist wieder so weit! Zum zehnten Mal hat die lyrix-Jahresjury 12 Jahrespreisträger*innen ausgewählt! Wir gratulieren! Der Preis: eine Berlinreise für den Austausch untereinander und mit der jungen Lyrikszene. Unser zehnjähriges Jubiläum feiern wir gemeinsam mit Preisverleihung, Lesung und Party. Gäste sind herzlich willkommen!

„Und überall können wir singen“ lautet das Motto unserer diesjährigen Preisverleihung. Anlass zum Feiern haben wir dieses Mal gleich doppelt, denn wir feiern neben unseren 12 aktuellen Preisträger*innen auch 10 Jahre lyrix!

Preisverleihung:
Donnerstag,
31. Mai 2018,
14 Uhr
mit anschließendem Empfang

Moderation:
Martin Piekar

Wo:
Akademie der Künste,
Clubraum,
Hanseatenweg 10,
10557 Berlin

Weiterer Höhepunkt unserer Berlin-Reise: die gemeinsame Lesung inklusive Party mit „Kabeljau & Dorsch“, die am Samstag, den 02. Juni 2018, um 19:30 Uhr im Brauhaus Neulich in Neukölln startet.

Gäste sind zu Preisverleihung, Lesung und Party herzlich willkommen! 

Und jetzt Bühne frei für die diesjährigen Gewinnergedichte und herzlichen Glückwunsch den Zwölf!

[you do not fucking hesitate]

Josephine Bätz
1996

in meiner stadt
hat sich vor kurzem ein wind
gedreht und jetzt zöger ich kurz bevor
ich die buntglasfenster kippe
die nachbarn die ich nicht kenne
freundlich grüße
und ich achte darauf auf der treppe
nicht auf die hunde zu treten.

häuserkanten schneiden uns die
handflächen auf enge straßen
wölben sich unter den füßen weg und wir
schreddern uns die sohlen am heißen asphalt
kaputt. wir rennen schneller um die
verdammten busse zu kriegen
und wenn wir warten müssen stürzen
über uns die haltestellen ein.

ich keuche den vögeln zu
SEID LEISER ICH HÖR MICH SO SCHLECHT dabei sind sie vor wochen verstummt
und wir
haben schon kein gedächtnis mehr und
immer noch kein ziel.
es gibt keinen grund keine panik zu
haben wir sind viel zu schnell um noch
singen zu können
und bald geht auch sprechen nicht mehr
und bitte kann
jemand die bremse ziehen weil hinter uns liegen
vermutlich schreckliche dinge
aber vor uns kommt gleich
die wand.

 

Gedicht zum Monatsthema: Und überall können wir singen
Juli 2017

Sein Amtseid

Phil Bussemas
1999

Er schwöppelt,
seinen Kawumm dem Gutgeh des treutschen Volkes zu wegen,
seinen Mehrhab zu mehren,
Schrammel von ihm zu wenden,
das Bodenhock und die Hocke des Bundes zu händen
und zu verbelfe,
seine Pflichten gelörnhaft zu erfüllen
und Gejustika gegen allemensch zu düllen.
So wahr ihm Gott helfe.

 

Gedicht zum Monatsthema: nulpe, pumpel, culpa, pose
Juni 2017

(eigentum)

Ruta Dreyer
2002

deine hand zieht zoegerlich
grenzen; grenz-wertig
ist dieses spiel der
persoenlichkeitspunktierten ICH DU HAUT
strukturen

irrend//irrsinnig
zwischen diesen grenzen
ist mein kopf eine beule
vom gegen-die-wand-laufen,
gegen-die-wand-der-intimitaet

hautfaeden durch den raum
bis unter deine tuer
deine hand ein fluoreszierendes
moralvakuum

identitaetsimprovisation
meiner sterblichen ueberreste

(ist mein koerper jetzt deiner weil du ihn beruehrt hast)

 

Gedicht zum Monatsthema: was grenze ist irrt
November 2017

Mama

Patricia Haas
1997

Bitte verlassen Sie diesen Raum
Mit dunkler Stimme
Unangenehm überfuhr sie mich
Und eine Wand zwischen uns war kreiert
Ich sollte gehen
Und wollte nicht
Und doch, ich sollte
Doch ich hatte Recht
Du wusstest nichts, Mama
Du konntest nichts dafür
Du wusstest nichts, Mama
Sie hat dir deine Erinnerung geraubt
Diese Krankheit, Mama
Und jetzt sagen Sie mir, ich soll gehen
Sagen mir, dass du mich nicht kennst
Doch ich wusste es besser
Mama, sag es Ihnen doch!
Ich bin dein Kind! Doch sie wussten es nicht
Du wusstest es nicht
Du weißt jetzt nichts mehr, Mama
Und jetzt wollen sie mich hinweg von dir
Verlassen Sie diesen Raum!
So förmlich
Und doch so bestimmt
Überrollt mich, wie eine Welle
Mama, du musst mich doch kennen!
Und ich will nicht von dir gehen
Demenz, Mama, sie entfernt mich von dir
Die weißen Geister in ihren Kitteln drängen mich
Bitte verlassen Sie diesen Raum!
Mit Nachdruck
Mit Schmerz – weil du mir weh tust – weil sie mir weh tun
Mama, du wusstest es nicht
Mama, du konntest nichts dafür
Und jetzt verlasse ich diesen Raum.

 

Gedicht zum Monatsthema: bitte verlassen sie diesen raum
Februar 2017

der sturm ´89 – oder: rückblickend aus dem jenseits

Tim Schäfer
2000

vermutlich hätte er nicht lange gezögert
die schusswaffe zu zücken.
für intrinsischen stolz der außerhalb der grenzen
wie wind verweht aber hier nicht vergeht.

dann lägen wir da hand in hand
die brise würde dein braunes haar sanft
zersausen. während wir die
grenzenlosigkeit doch erreicht hätten.
oder
man hätte uns gewarnt [gewiss nur an guten tagen]
ein falscher schritt und das minenspiel setzt ein
dort wo später die fassadenkünstler
triumphieren auf ihren altarplatten sie
fassen sich im ostwind so geleckt ins haar.
oder wir
wären wieder umgekehrt
hätten die letzte ziffer um zwei geschmälert
besser einen heißluftballon gemietet
es wahrscheinlich lieber
ganz gelassen um irgendwann
ganz gelassen rechnen zu können:
repression und observation macht_illusion

doch ich war kein mathematiker
kein kalkulierer
aber wie oma schon sagte
wer wind sät
wird sturm ernten – eine befreiende ernte
und der beton fiel.
später.
als wir schon lange vergessen waren.

(in gedenken an 1135 mauertote)

 

Gedicht zum Monatsthema: Du hast Wind gegessen, er schmeckt wie Filzstaub
Oktober 2017

Natronsee

Laura Schiele
1998

Durch den Natronsee erstarrt der Silberreiher
Landein nur alkalisches Gebiet
Mit den Schiffen begann die Havarie
Nun gehen am Ufer die Menschen zu Bruch
Verkalkte Träume von reiner Luft
und Wasser versalzt durch weißes Gift
Man sieht nur verhärtete
Menschenleben,
die konservierte Emotionen halten –
Tag für Tag bleibt das Beten, dass jemand das
Land wieder urbar machen wird

 

Gedicht zum Monatsthema: Aus der Planierraupe ist ein Parkplatz geschlüpft
Dezember 2017

engelchen, drück ab!

Jessica Taran
1999

Zoome weg
die wege
die ich gegangen bin
ein symmetrisches straßennetz
millimetergenaue passform

für die normen der gesellschaft

oberflächlich

aus der vogelperspektive

verwischen die ecken und kanten
die in ihnen zusammenlaufen
an denen ich kollabierte

und du,
engelchen,
hast den moment zerschossen
ekelst mich an
wenn du mir das bild unter die nase reibst

nach tausend jahren – wir sind ja alle unsterblich – und bis dahin
hätte ich längst vergessen

dass ich gegen die hauswand gepisst habe
wenn du die uringelbe pfütze nicht fotografiert hättest

und die kieselsteine

die ich gegen jede fensterscheibe geschmissen habe
damit ich nicht ständig gegen wände laufe
mir den kopf zerbreche
kollabiere
pisse

engelchen,
du hast jede scherbe aufgesammelt
(nachdem du meine illusion zerschossen hast)
und sie zu mosaik zusammengelegt
vielleicht hoffst du noch
dass du mich in die kirche lockst
wenn ich meine eigene story im fensterglas durchscheinen sehe
(durchsichtig, unsichtbar, nicht existent)

doch daran hast du dich geschnitten,
engelchen,
an jeder einzelnen scherbe
träum weiter
von heilen welten
dafür hast du ja noch \’ne ewigkeit
mich musstest ja aufwecken, aus meiner rosaroten, und weißt du
wie scheiß weh das tut, aus den wolken zu fallen? aber du
hast ja nie gelebt

wie ein penner

anonym

straßenköterblond

Zoome weg
weit weg
massias, mein vorbild
ich folge deinen heiligen fußspuren
zumindest aufs hochhausdach
– da hat man \’ne bessere perspektive, was engelchen?

zück schon mal
die kamera
ich steh bereit
damit du auch diesen moment zerschießt
ziel auf mein herz, du bist doch so
treffsicher
hast rosarot aus meinem farbspektrum entfernt
doch ich sehe nicht schwarz
nicht weiß
ich sehe grau
vor mir der betonklotz, ich könnte kotzen

wenn du zulässt, gott
klaue ich \’nen plastikbeutel
oder doch \’ne stofftüte, damit mich niemand erkennt
wenn ich vom hochhausdach kippe,
engelchen, wenn ich falle lass mich fliegen
zoome weg
so weit weg distanz auf höchstem niveau

was gibst du mir dann?

 

Gedicht zum Monatsthema: Panoramablick
August 2017

flut

Anile Tmava
1999

versengte haut
ein präzises nachglühen in den atemwegen
züngelt auf in der verwaisten brise.
aufrecht stehst du
als strandgut im zenit.
dann wolken wie luftballons
an nieselschnüre geknotet.
flutrauschen
häutet stück für stück
deine beschlagene ohrmuschel.
der wind fährt durch jackenärmel
(gesteifter tunnelblick.)
glasscharfe funken hallen im schlag der lungenflügel wider
das asthmatische geräusch
ein pendel im wasserbrechen.

 

Gedicht zum Monatsthema: Du hast Wind gegessen, er schmeckt wie Filzstaub
Oktober 2017

dziadek

Kerstin Uebele
1997

der himmel deiner geschichten war federleicht
origamivögel schnitten durch wolken
im beuteflug

der zaun zu den nachbarn
das ende unsrer welt ich webte hände
du worte in die spalten im gegensatz zu dir
ist der zaun geblieben

manchmal noch erinnert
mich altbekanntes an dich
hähne beete imperative


dann baue ich mir im kopf dein haus
öffne das tor und verschiebe die zäune
hierhin dorthin (handbreiten weit)

nur das kreuz im garten
das dein schweigen erzählt
wächst an alter stelle

und ich schieße gefaltete vögel zu mittag
dass neue kugeln treffen
im vertrauten winkel

 

Gedicht zum Monatsthema: was grenze ist irrt
November 2017

Schlacht bei Coulmiers

Marie Christine Voss
2000

Der Himmel schmeckt heut wie Kalkstein,
Sieht mir nach wie ein bleiches Gesicht.
Doch hinter mir klebt schon die Sonne,
Die mich mit ihrer Kälte ersticht.

Die Kirche reckt ihren Hals in den Wind,
Der sich anfühlt wie splitterndes Eis.
Und mein Atem dreht sich im Sturm
Wie ein Überdenker im Kreis.

Ein Mann dort presst das Gewehr ins Herz
Und ein anderer denkt sich ein Grab.
Ein anderer weint, ein anderer schluckt
Die Tränen die Kehle hinab.

„Heure du déjeuner!“, rufen sie als sie kommen
Und wer denkt nicht an Zuhause?
„Fin d‘après-midi!“, rufen sie und verzweifeln
Und die Herzschläge spielen die Pause.

Meine Augen finden den Mond, der wie
Eine Murmel am Nachthimmel baumelt.
Ich schließe mich ab und ertrinke,
Als mein Atem in Sturmhände taumelt.

 

Gedicht zum Monatsthema: Du hast Wind gegessen, er schmeckt wie Filzstaub
Oktober 2017

SCHMERZ IST EIN

Julia Marie Weber
1996

Schmerz ist ein Meer zum Ertrinken also stellt sie sich das Echte vor
scharf kantig blau so kalt fast gefroren fast schneidet man sich an ihm
wir zeichnen ihr mit Creme die Wolken aufs Gesicht
die hinter ihren Augen dunkel lauern
kämmen sie zart wie die Wellen das Wasser
aufgestobener Sand schmirgelt über ihre Haut
als sie Richtung Düne rennt
sie kann wieder laufen und schreit


vor ein paar Tagen zeigte sie auf ihre Haare und wir holten chirurgische
Scheren
ich befahl meinen Händen radikal zu sein wie sie es wollte
der Rasierer summte über ihren Schädel und sie tastete so wie man tastet
wenn es leichter ist das zu zählen was noch da ist und nicht das was
schon verloren ist

wir müssen sie auf die Seite drehen und ich halte sie
in meine dunklen Augen will sie immer gucken
Fernglasblick rückwärts durch die Zeit zum Meer wo wir beide schon so
oft gewesen sind
suchen die Unschuld der Welt in seinem weißen Wellenschlagen und
den Trost im Zyklus der Gezeiten
heute vergeblich ich weiß nicht ob sie dort ist
ich glaube sie ertrinkt
sie schreit
sie hat das Schwimmen verlernt

noch einmal später träume ich von ihr
sie liegt zusammengeschrumpft im Bett wie ein Baby
sie trinkt Milch und trägt eine Windel und fragt ob ihr Leben denn ein
Gutes wird
ich nicke vorwärts guckend und erzähle ihr vom Meer

 

Gedicht zum Monatsthema: Ein ewiges Rückwärtsgehen
März 2017

[ohne titel]

Anne Magdalena Wejwer
1997

es fing an mit einem pudding
waldmeister vanille weiß ich nicht
hab mir nichts dabei gedacht
als du mir deinen rübergeschoben hast
schweigend

mama hat sich gefreut gesunde ernährung und so
papa hat gelacht typisch pubertät halt
ich habe nichts gedacht nur zugeschaut
und gegessen was du nicht
gegessen hast

jeden abend

jetzt ist dein teller leer und auch der stuhl
messer kratzen auf porzellan gabeln
zersägen die stille ich habe nicht gemerkt
dass da was ist was dich auffrisst
von innen tag für tag


ohne dich verliert die welt an geschmack
das essen vor mir wird zu einem haufen
nichtssagender moleküle wütend strecke
ich dem spinat die zunge raus als wäre er
schuld daran dass du plötzlich
nichts mehr essen wolltest

jeden abend

schreit die leere zwischen messer und
gabel fragt mich warum mein rechter
platz ist frei das glas ist nicht mehr
halb voll salztropfen fallen auf meinen
teller keiner weiß ob du noch da bist


wenn wir dich besuchen kommen
morgen früh

 

Gedicht zum Monatsthema: zu tisch war immer einer mehr geladen
September 2017

Schreibe, um zu träumen.