Unsere Gewinner*innen im März 2019
„einschüsse wie sommersprossen“ lautete das Thema im März, eine Zeile aus dem Gedicht „brücke über die drina“ von Max Czollek. Darin verbindet er Begriffe, die eine emotionale Spannung aufbauen und über die scheinbare Widersprüchlichkeit der Emotionen mehrere Schichten von Erinnerungen eines Ortes freilegen.
Durch Raum und Zeit in die Warteschleife zum Leben
Stunden im Spiegelkabinett
Perfekt und schlank dank Streifen
Häkchen auf allem, was richtig ist
Und doch – Es geht besser
Nur wo ist Vergleich, wenn alles gleich ist?
Minimalismus – Ein Trendthema
Obgleich es einen nach mehr sehnt
Und Gleichungen gehen nicht auf,
Sondern wachsen
Exponentiell in die Höhe
Bis ins Unerreichbare
Der Griff nach den Sternen
Wird zum Griff ins Klo
Ein Würgegriff
Ein Teufelskreis
Wie Planeten, die eine Sonne umkreisen
Auch nur ein Stern am Firmament
Weit genug weg, um nicht erreicht zu werden
Damit wir uns nicht verbrennen
Brandnarben – Ewig und nicht zu vergessen
Wo keiner vergessen kann
Sondern sich nur nicht erinnert
Wir laufen, schnell
Und diese Ewigkeit rennt mit
Nicht um uns aufzuhalten
Sondern in die selbe Richtung zu stoßen
Auf die wir zulaufen wollen
Aber nicht können
Wer nicht dranbleibt
Schafft es auch nicht
Und soll auch nicht rumheulen
Wir machen die Regeln ja nicht
Wir spielen nur nach ihnen
Wenn auch unfair
Spielen was das Zeug hält
Und wenn wie die Vögel morgens um fünf zwitschern hören
Wissen wir
Es ist fast Zeit
Unsere Zeit
Aber noch ist es nicht Zeit genug
Alles soll schneller gehen
Also, wann sind wir endlich da?
Zeit die wir verplempern
In einer Warteschleife
Für das Sprungbrett ins Leben
Bis wir dran sind
Und uns in die Kälte fallen lassen
Ein kurzer Augenblick des Abenteuers
Bis zum bitteren Aufprall
Der an Heizkosten zu sparen Zeit
Wenn der Druck des Wassers
Über dir zusammenbricht
Chlorgeschmack in deinem Mund
Und wir spielen weiter
Spielen nicht wer wir sind
Sondern wer wir werden
Ein Selfie? Nein!
Wieso das Drama?
Unsere Gesichter
Geziert von Einschüssen
Wie Sommersprossen
waldstraße
es riecht nach regen aus vergangenen tagen
das wasser hat unsere kreidezeichnungen
vom asphalt gewaschen, das grinsen der gesichter
dort verläuft sich in pfützen
die tropfen rinnen in die poren meiner socken,
sammeln sich in sohlen, wo sie suppend
meine zehen baden
vor mir das haus
meine füße springen über die stufen,
ich schließe die tür zu und die welt aus
werfe die schuhe, wringe die socken,
der tropfende stoff fleckt auf den teppich
seine fasern fassend verloren
sich kinderhände darin
wir sollen keine flecken machen,
sagte oma
die socken tropfen, es riecht noch nach regen
und ihrem parfum
besonders in dem großen salon
hier aßen wir kuchen, pulten die streusel
vom gartenobst, legten daraus
die kreise auf der keramik nach
die kreidegesichter gespült in den gulli
das haus ist leer
das prasseln des regens scheint lauter darauf,
bis die flecken in teppichfasern ertrinken.
punktionen
jede der kleinen runden braunen
die aussehen wie unter die Haut tatöwiert
dunkelrosa und beige, sanfte
kleine kreise die die hände schmücken
die arme behängen, den bauch bereichern
jeder einstich der nadel hinterlässt ein mahnmal
die etwas größeren roten, leicht verblassenden
die etwas hinterlassenen, nicht
zu leicht entdeckenden abdrücke, die
spürbaren fußstapfen im matsch eines waldes
in dem es immer wieder regnet, tröpfelt kurz
bevor der boden zu trocknen beginnt
jedes klebende kabel ein drückendes phantom
zwischen bäumen schimmert halogenlicht, der strahl so dünn
wie ein faden einer spinne die mich holt
wie ein laser, eine nadel
die sich langsam nähert
der countdown ganz langsam
pochende anspannung im hals
am ende bleibt ein klobig graues rechteck
an dem das hemd hängen bleibt
bis das aceton es wegwäscht
Holundergelee (Sommer 2006)
5 Eier, ein halbes Pfund Mehl und ebenso viel Zucker
quietschend schlug die rostige Nadel der Küchenwaage aus
unter gebutterter Springform
ein Schnurren auf der Fensterbank
„Mieze“, drang es warmherzig
aus der Küche
obgleich es das einzige gesprochene Wort
für heute bleiben sollte.
neben der Veranda trockneten noch
die Aquarelle aus Leinen
im sachten Wind schunkelnd
Vergissmeinnicht
Blütenblätter auf dem Halmabrett
doch die wichtigsten Spielfiguren
warfen schon längst keine Schatten mehr
seitdem sie ihre Schürze gegen
das Krankenhemd hat eintauschen müssen
„Fleutenpiepen“, betitelte sie den Umstand
und verschwand hinter einer Reihe Buchsbäume
von Hand aufgezogen
die Fingernägel voller Blumenerde
selbst den Ehering niemals abgelegt
denn auch wenn man mal „strauchelte"
sah sie stets mehr gute als schlechte Zeiten
schließlich den Boden mit der angerührten Crème befüllen
und die andere Hälfte auf dem fertigen Bienenstich platzieren
sie kochte ein Deck voll Einmachgläser aus
deren umgestülpte Gestalt schon bald
den Esszimmertisch in ein Mosaik
verschiedenster Marmeladen verwandeln sollte
in letzter Zeit überkam sie eine seltsame Erschöpfung
aber erschien nicht jeder sowieso ein wenig „moijde"
wie damals nach dem Scheunendreschen
sind sie friedvoll auf dem Heuboden eingedöst
hatten sich ewiges „Upwahren" geschworen
doch anstatt die Spreu vom Weizen zu trennen
galt es heute, ihn am Streuen und Spreizen zu hemmen
zumindest so rieten ihr die Doktoren
ein Teil ihrer selbst hatte sich bereits aufgelöst
um neben Mai und Glöckchen gen Himmel zu preschen
es war dieser leicht säuerliche Geruch
ein wenig nach zu früh geernteten Äpfeln
der ihr nun in die Nase stieg
allein wenn sie nur an ihren Garten dachte
zum ersten Mal nach 17 Jahren
und sie fragte mich, wer sich einmal um ihre Sammlung kümmern sollte
einen Kanon an Sandkörnern
nicht wie jene, die durch eine Sanduhr zu rinnen bestimmt waren
sondern die als Souvenirs von Bekannten in ihrer Stube standen
sie kannte viele Leute
so oft hatten wir gemeinsam
auf dem Waldweg in die Ferne bis ins Tal gerufen
sie starrte uns entgegen
während die Pipettentropfen durch die Kanüle kullerten
doch warteten wir auf ein Echo
das niemals wieder ertönen sollte
und wenn ich nun über die Garnitur streiche
erspähe ich hinter einer kleinen Vase
ein verstaubtes Glas ohne Sand
eingemacht und fest verschraubt
die Gestalt einer Flaschenpost
befüllt mit bordeauxfarbenem Gelee
und Mandelblättchen
das verblichene Etikett nicht mehr lesbar.
Seespaziergang
Da hat Gott eine Lacke hingepisst
vor den Bandscheiben des Hinterlands
wo man Nägel in Wiesen schlägt und
darinne der Steg zum Springen
dran verkohlte Mondränder wie Reifen
bewegt von Winden die nicht mehr pfeifen
zu Fuß ein Hund der mal Wolf war
und ein Rabe der romantisch um Hilfe kräht
über allem die Sonne
die untergeht.
Kitt
hier an diesem Ort den wir uns teilten
zusammen gesplittert aus allen Richtungen
zerbrechen wir diese Nacht in gleichgroße Teile
um die gewachsene Fremde zu kitten doch
fallen wir uns durch die Arme
und der nächste Tag der zwischen uns zu Boden geht
bricht klirrend die Frage herein
was tun wir hier
wenn uns nicht mal mehr
dieser Boden zusammenhält
Ihr habt den Faden aufgenommen und uns zahlreiche Gedankenteppiche zu vergangenen Zeiten und aktuellen Sichtweisen geschickt. Der Weg führt ins Spiegelkabinett: „Wo keiner vergessen kann // Sondern sich nur erinnert“. Verschlungene Pfade der Kindheit werden in den Blick genommen: „es riecht nach regen aus vergangenen tagen“, „der tropfende stoff fleckt auf den teppich // seine fasern fassend verloren // sich kinderhände darin“. Alles erscheint, um sich gleichzeitig immer mehr aufzulösen: „zwischen den bäumen schimmert halogenlicht, der strahl so dünn // wie ein faden einer spinne die mich holt“. Es trifft uns als auch die anderen: „ein Teil ihrer selbst hatte sich bereits aufgelöst // um neben Mai und Glöckchen gen Himmel zu preschen“. Doch auch im Ungewissen stellt sich die Frage nach dem Sinn: „doch fallen wir uns in die Arme // und der nächste Tag der zwischen uns zu Boden geht // bricht klirrend die Frage herein // was tun wir hier“. Es ist kein Ende in Sicht, die Fäden spinnen sich weiter von Schicht zu Schicht, doch hier und da blitzen vielleicht doch Gewissheiten auf: „Da hat Gott eine Lache hingepisst // vor den Bandscheiben des Hinterlands“.
Wir bedanken uns bei euch für die vielen spannungsreichen Texte und gratulieren den Gewinner*innen sehr herzlich: Rahja J.J. Baumann, Rosa Engelhardt, Lena Hinrichs, Tom Niklas Pohlmann, Lara Ritter und Laura Schiele!
Viel Vergnügen beim Lesen!