Unsere Gewinner*innen im Juni 2018
Herzlichen Glückwunsch! Diese sechs haben bei unserem Juni-Thema „Der Regen fällt manchmal nach oben“ gewonnen! Marie T. Martins Gedicht „Postkarte“ hat euch inspiriert ebenso wie ein "magischer Erinnerungsort" aus Freiburg: die Wiwilíbrücke.
Lac des Deux Amants
Ich hatte den See ausgeleert und einen Tropfen in den Mund genommen -
er roch wie du manchmal gerochen hast und da habe ich vor Schreck etwas Meer verschüttet. Auf allen Vieren kroch ich über den Boden, eine echte Sauerei.
Ich war so verwirrt als du mich dabei erwischt hast wie ich Blitze einschlagen ließ, dass ich ganz vergaß, dass der Regen bei dir manchmal nach oben fließt.
Und dann dein Donnerschlag traf mich ganz tief in meinen Eingeweiden.
Ich erinnere mich genau; Der Wind flüsterte immer sehr laut bei dir. Ich habe die Worte alle aufgeschrieben, jedes auf ein Blatt. Einen ganzen Strauch voll habe ich geschrieben und zu einem Strauß gebunden und auf den Tisch gestellt.
Erinnerst du dich noch? Die Katzen stürmten die Einfahrt hinauf wenn ich kam - und der Fluss strömte uns entgegen, schwamm seine Bahnen um uns, goss die Rosen, die rot waren und orange mit Chantré, sowie dich und mich.
Ich wollte nie Steine ins Rollen bringen, nur Sandkörner sammeln und in dein Bett legen, um dich zu ärgern - Du tobst so schön, wenn du durchs Haus stürmst, zürnst und peitschst, sich Tropfen auf deiner Stirn bilden und es ein Donnerwetter hagelt. Wenn mich der plötzliche Niederschlag zu Boden drückt und mir ein frischer Schauer nach dem Anderen über den Rücken jagt.
Dann warte ich doch immer nur, dass du vor Rage schmilzt und ich dich endlich aufsaugen kann, wie ein großer Schwamm.
Ich hätte dich sicher längst ausgetrunken, mich berauscht, hätte dich ausgekostet, wärst du nicht so eiskalt, würdest nicht in den Augen beißen, knisternd mit deinem Atem aus fieberndem Stickstoff meine Kehle verätzen und meine Verbrennungen unter deiner Haut zu pulsieren zwingen.
Ich wollte eigentlich noch ein Feuer pflanzen oder wenigstens etwas Brause züchten, aber ich hatte ja ganz vergessen, dass bei dir die Uhren rückwärts gehen.
Bei dir lebt die Natur so leidenschaftlich. Bei dir wo meinen Adern kochen und meine Zellen gefrieren, bin ich gut genug, um mich in einer Lache Wasser auf dem Boden zu baden.
Bei dir, wo ich immer über dünnes Eis schlittere oder in sprudelnden Pfützen ertrinke, nach Luft japsend, bis du die Güte zeigst, mich wieder aufatmen zu lassen, um mir die Wolkenreste aus dem Gesicht zu wischen.
Und wenn dann noch etwas von dem See übrig ist, nehme ich gern noch einen tiefen Schluck.
impressionen vergangener sommer (vol. 1)
postkarte I
obelix wirft hinkelsteine
während du über zahnstocher läufst
die lüftung defekt
hibiskus röchelt laut
die carpione hat sich im zitronenbaum verfangen
dein fester untergrund wankt in den panoramen
und auf der oberfläche der gesammelten steine bricht sich das licht
postkarte II
rote flagge gehisst am alten konstrukt
die brüste der landschaft sind operiert worden
du hasst sie dafür
unterschlupf finden zwischen dem schmarrn
das farbspektrum deines kopfes ist monochrom
ein leises plätschern an den dingen herab
der tag ertränkt sich vor deinen augen
postkarte III
ein stetiges laufrad ohne zu laufen
pseudopyramidiale akrobatik
die kreide an deinen händen wäschst du am pier
während dein fotoalbum überquillt
gestutzte rabenflügel sind nicht so dein fall
dafür aber tescos pizza
grüß mrs dennis von mir
postkarte IV
homo sweet homo
du baust doch lieber hütten im wald vor deiner tür
und ziehst dich schließlich immer weiter zurück in dein schreiben
weg mit den orten
weg mit den momenten
aus zeit hast du einen diamanten gepresst
und es ist gut so
freakin Delle
Lieber Leo
Frikadelle ich
hasse
sie
mit Senf und
ohne Zwiebeln
aß ich sie an der
nördlichen
See
zur weißen
Schrippe mit sandig
körniger Beilage
und
sonnig-tränenden
Grüßen vom Meer
deine Helene
Lieber Leo
wieso muss ich immer noch allein
auf der dünenumschlossenen Bank
mit ihrer freakin Delle auf der du
sitzen solltest Frikadellen essen
bis der Morgentau von den Dünengräsern
meine Erinnerung wieder aufweicht
und mir meine runtergewürgte Frikadelle
so übel von unten nach oben schießt
dass mein Kopf sich an deine halbe Frikadelle
schmiegt
deine Helene
Lieber Leo
wie lang denn soll ich denn
nicht etwa noch warten
du wirst doch schon
oder
bevor das Meer sich ument
scheidet und plötzlich
vom Mond nach
oben gezogen
wird
wie soll es denn dann jemals
wieder runterkommen
einmal nach oben
gefallen für
immer
wie sollst du mich denn dann
jemals wiederfinden
deine Helene
Lieber Leo
morgen da schick ich sie ab. die Briefe. sie stecken schon so lang in der freakin Delle meiner Klagemauerbank. da wo vor meinen Augen das Meer am Himmel klebt. seit 34 Jahren nun.
deine Helene
L_ _b_ _ L_o
d_ _ Frikadellen g_h_n _ _ _gs_m _us
b _vor w_ _ s_ _ t_ _ _ _ _ _o_ _t_ _
_ _ _ _ _ H_ _ _ _ _
Zwei-Zimmer-Wohnung
2008 fingen sie an den Teil meines Gehirns, der für das nostalgische Abrufen meiner Kindheitserinnerungen zuständig ist, zu betonieren.
Damals schaukelte ich auf meiner pfirsichorangen Schaukel, wie die immer auf- und untergehende Sonne, Tag und Nacht.
Wir stellten alles auf den Kopf, sodass der Regen manchmal nach oben fiel und wir keinen Regenschirm brauchten, aber heute schimpft meine Mama, wenn ich bei Regenwetter das Haus ohne Regenschirm verlasse und kopfüber nach Hause komme. Sie sagt dann, ich soll mich nicht so anstellen.
Ich suchte vergeblich nach Goldschätzen mit meiner knallgrünen Schaufel im Sandkasten. Mit dem Nachbarsjungen, der inzwischen das Weite suchte.
Damals war Hähnchen mein Lieblingsessen, doch der Holzkohlegrill im Vorgarten ist nun ein Elektrogrill und ich Vegetarier.
Das neue Wohngebiet lässt mich kalt, keine Familie mit vier Köpfen teilt sich mehr eine Zwei-Zimmer-Wohnung, keiner traut sich das heutzutage, die Balkone sind viel zu klein und haben keinen praktischen Nutzen, Tag und Nacht vergehen und meine pfirsichorange Schaukel schaukelt nicht mehr.
Das Baujahr ist mir unbekannt, doch unsere Zwei-Zimmer-Wohnung war nicht zu alt. Sie war ganz sicher nicht zu alt.
Vielleicht war ich zu jung um das zu verstehen.
Nachtzug
An der Fensterscheibe werden Regentropfen langsam hochgedrückt.
Die Dunkelheit frisst die Welt von außen
und langsam taucht meine Spiegelung vor mir auf,
betrunken im Doppelglas.
Distanziert betrachten sich die braunen Augen.
Die Haare waren Früher röter,
glaube ich.
Die Sorgenfalte war schon da als ich ganz klein war,
Auf Fotos.
Schon damals in Bedenken, vor der Zukunft,
die jetzt da zu sein scheint.
Das Licht im Zug wird gelöscht.
Das Spiegelbild verschwindet.
Der Regen fällt nach oben.
Draußen ziehen im Dunkeln verregnete Felder vorbei,
werden zu Wäldern,
Werden zu Bergen werden.
Es fährt ein Zug mit mir nach Süden,
die Heimat verschwindet in Nacht und Regen,
beides bleibt am Zug hängen und fängt mich ein,
Lässt mich einmal traurig sein.
Ohne Bedenken.
Ich schlafe ein.
Manchmal ohne Fallen erwachsen (manchmal auch mit)
Als ich immer
glücklich war ich
noch ummantelt von Eigelb oder
nicht existent?
Ich konnte in die falsche Richtung weinen leise nach
innen außen oder
stumm.
Waren wir Helden unserer Zeit (?) steht still wenn Bilder dampfen in meinem kopf herrscht
CHAOS denn
ich schreie in die falsche Richtung
Ohne Ende aber auch ohne Anfang
Eine unangebrochene liegende Acht weil
Ich erstarrt bin in meiner Schale ist
nicht das selbe wie echter Schutz.
Brüder wie Wurfgeschosse in die Gräser Italiens als ich falschherum schlafe knallt mein Schädel
backpulverhart wie Knochenpudding auf die Fliesen.
Sie nannten mich das Regenmädchen doch Spott den meinen
nassen Haaren im
Klassenzimmer
ICH WILL DOCH NUR KIND SEIN.
Doch ich rede verdreht
sind meine Worte zu
mir selbst wenn ich
weine
manchmal
immer öfter
In die falsche Richtung.
Im Juni drehte sich bei lyrix alles um magische Orte der Kindheit und Erinnerungen. Ihr nahmt uns mit in Zwei-Zimmer-Wohnungen und den Nachtzug, zur nördlichen See und zum Lac des Deux Amants. Ihr habt Postkarten für uns gelesen und Geheimnisse mit uns geteilt.
"ICH WILL DOCH NUR KIND SEIN. / Doch ich rede verdreht": "unterschlupf finden zwischen dem schmarrn / das farbspektrum deines kopfes ist monochrom." "Ich hatte den See ausgeleert und einen Tropfen in den Mund genommen -" "Frikadelle / ich hasse / sie / mit Senf und / ohne Zwiebeln". "Damals war Hähnchen mein Lieblingsessen, doch der Holzkohlegrille im / Vorgarten ist nun ein Elektrogrill und ich Vegetarier." Die "Heimat verschwindet in Nacht und Regen, / beides bleibt am Zug hängen und fängt mich ein, / Lässt mich einmal traurig sein."
Herzlichen Dank für eure Texte im Juni und Glückwünsche an die sechs Gewinner*innen!