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Monatsthemen und Gewinner*innen

15-20 Jahre

Unsere Gewinner*innen im Februar 2018

Wettbewerb im Februar 2018

Die Wahl ist getroffen! Unseren sechs Gewinner*innen zum Thema „Mein Vater hat ein Loch“ aus dem Februar 2018 gratulieren wir! Zwei Texte von Michelle Steinbeck und eine Kettensägen-Performance von Claudia Comte aus der Kunsthalle Basel dienten euch als Inspiration.

Konfetti

Helena Finn
1998

Mein Vater hat ein Locher
manchmal am Wochenende O darf ich ihn nehmen
wenn O ich ganz vorsichtig O bin
in das O weiße Papier kleine runde Löcher stanzen.
das Konfetti sammel O ich in einer O Tüte
heimlich O weil Mama mag O das nicht
wenn Papierschnipsel O auf dem Boden liegen.

Mein Vater stößt den Ball ins
L o ch
mit ganz viel Schwung
auf der großen grünen Wiese mit seinen Freunden
und er freut sich und schwingt mich durch die Luft
und ich darf seine Golfkappe tragen
auf dem ganzen Weg nach Hause.

Mein Vater hat ein Schlüsselloch
durch das man nicht gucken kann
weil ein Schlüssel von innen steckt
und aufmachen darf ich es auch nicht
das will Mama nicht
nur einmal
da bin ich nachts aufgestanden
weil ich aufs Klos musste
und da war die Tür offen
und es waren ganz viele Bücher überall.

Ich hab ein Loch im Ba . uch
aber Mama sagt wir müssen noch warten
bis mein Vater von der Arbeit kommt
obwohl ich Hunger habe
und der große Zeiger auf der Küchenuhr
sich nur ganz langsam bewegt.

Meine Mama klebt ein Pflaster auf das Loch in meinem Knie
es brennt ganz fürchterlich
Blut läuft mein Bein hinunter.
ich bin mit dem Fahrrad hingefallen
das wollte mein Vater mir beibringen
aber er muss arbeiten
sagt Mama
und dann habe ich es selbst versucht
jetzt flickt Mama das Loch in meiner Jeans
und ich darf so viel Kekse essen wie ich will.

Ich verkrieche mich in das Loch
in den Decken und Kissen
und stelle mir vor Alice zu sein
wie im Wunderland
um die Stimmen nicht zu hören
und die Schreie und das Streiten.
das Konfetti in der Tüte in meinem Geheimversteck
sieht gar nicht mehr so schön aus.

Mama buddelt ein Loch im Garten
und Tränen fließen über ihre Wange.
sie wirft Zettel und Briefumschläge hinein
die Flammen brennen Löcher in das Papier
immer größer
bis nur schwarze Asche übrig bleibt.
und dann sitzt sie im Wohnzimmer
und starrt Löcher in die Wand.

Ich darf mir ein Ohrl ch stechen lassen,
funkelnde Perlen
die das Loch verdecken
das sich langsam entzündet
und anfängt zu eitern.

Wie haben ein Loch Zuhause
ein schwarzes Loch
das alle W o r t e verschluckt
nur die Gedanken nicht
die schweben über uns
unausgesprochen.
das Konfetti werfe ich weg
Papierschnipsel sind was für Kinder.

Mein Vater hat ein Loch
gerissen in meine Familie
ich versuche mich zu erinnern
wie es früher war bevor
ich ein Loch in
meinem Herzen
hatte
.

Anleitung zum Stricken eines Rundschals

Sally Liu
2001

Anschlag
Weißt du noch als du die alte Birke fällen wolltest
um ein Loch an ihrer Stelle zu schaufeln
aber das einzige Loch das ich sah war das in deinem Daumen
als du mir deine Hand zeigtest mit so viel Blut so rot
wie der Faden den ich im Ajourmuster strickte
als der Arzt dir sagte du würdest nie wieder Geige spielen.
Umschlag
Das Knäuel zu meinen Füßen ist so wirr
aber langsam erkenne ich ein Muster mit ganz vielen
Löchern aber keines ist so groß wie das in mir drin
weil ich die falsche Person in mein Leben gestrickt habe
und das Loch am Rand zu groß geworden ist
als dass ich es füllen könnte.
Abnehmen
Jetzt reduziere ich indem ich immer zwei Maschen zusammenstricke
wie unzertrennliche Zwillingsschwestern die ich nie hatte
und keine ist allein obwohl vor und nach ihnen
Nichts ist so wie in meinem Magen
seit sieben Tagen
aber mach dir keine Sorgen um mich denn du verstehst nicht
dass ich dieses Loch zwischen den Oberschenkeln brauche
um ins Muster zu passen.
Wenden
Ich bin am Ende der Reihe angekommen doch ich habe ihren Faden verloren
der Platz neben dir ist leer es ist so still
fast so als hätte eins der Löcher sie verschluckt und sie zu
ihresgleichen gemacht
ich wünschte ich könnte in deinen Armen weinen
so wie früher
während sie das Loch in der Erde mit ihrem
leblosen Körper füllt denn ab jetzt stricke ich
keine ganzen Reihen mehr.
Abketten
Die Runde wird kleiner die Maschen rücken näher
zusammen fast so als würde sich das Loch endlich
schließen
ich ertrage diese Stille nicht mehr habe wieder angefangen
Klavier zu spielen allein ohne Geige
ohne dich
und die Töne klingen durch die Stille wie
ein Echo vergangener Zeiten
und ich sitze hier mit Tränen in den Augen und frage mich
ob ich dich auch schon verloren habe.
Vernähen
Zum Schluss lege ich beide Enden zusammen und verbinde sie
mit meinem letzten Rest Faden
wie ein beendetes Lebenswerk fühlt es sich an
aber für ihr Leben kam es zu spät
du legst mir den Schal um den Hals und sagst dass er dir
gefällt weil er die Farbe von ihren Lippen deinem Blut
und meiner Diätcola hat
die ich gestern weggeschmissen habe
und die Farbe von Liebe die wir alle so sehr
gebraucht hätten in diesen Zeiten
deine Arme umschließen mich warm
wir bewundern das Ajourmuster wir lächeln
weil wir endlich sehen dass hier alle Fäden zusammenlaufen
Unser Schal hat keinen Anfang und kein
Ende

Da wo wir nicht wohnen

Lara Zoe Ritter
1999

Vater, auf dem Nachhauseweg
hielt ich fremdes Mauern-Grau
für unser Hausfassaden-Blau,
und bog in die falsche Straße ein.

Nach einem Schritt hat mich der Regen
in einen Hauseingang getrieben,
mit dem Trinker, bei dem wir nie stehen blieben.
Unsre Tür ist viel geputzter!

Da klebten Schlamm und Kies am Holz,
Wörter standen eingeritzt,
von denen hast du nie erzählt,
beim Aussprechen brach meine Zunge fast,
so schwer sind sie gewesen.

Eine Alte, mit lauten Gedanken,
verirrte sich ins Gebäude hinein,
aus dem Staub in mein
Gesicht flog und juckte,
schnell machte ich die Augen zu.

Hast du je dort gewohnt, Vater?
Wo die Blumenkästen nicht bemalt sind,
und der Regen die Hyazinthen gießt?
Mir war als wär' ich von der Milchstraße
auf den Mond gefallen.

Später kam ein Mann aus dem Haus,
seine Lippen sahen aus
wie Blütenblätter,
frisch vom Balkon gepflückt,
um sie auf den Straßen sterben zu lassen.

In mein Zimmer hast du Sterne geklebt,
auf die Gasse sah ich sie nicht scheinen:
Ein Planetarium mit Stromausfall,
dem Meteoriten aus dem All
auf die Dächer gefallen sind.

Ich habe mich nach ihnen gebückt,
dein Schirm hat in meinen Rücken gedrückt,
an ihn habe ich nicht gedacht,
vor all den fremden Farben.

Vater, auf dem Nachhauseweg
wusste ich das Mauern-Grau
ist nicht unser Fassaden-Blau,
fand trocken wieder heim.

rituale

Kerstin Uebele
1997

ich muss bei zelten an holunderbüsche denken
vater und ich schlugen die zweizimmerwohnung für drei
in die wurzeln hinein
stellten klappsitze ins morgengrau
brühten kaffee auf blauer flamme
pusten trinken pusten trinken trinken heiß

er ruft: französischer dichter todesjahr '40
ich bin in schal jacke schuhen schon halbgegangen im flur
sage einen namen mit akzenten und gewissheit
sehe zu wie er
zeile um zeile um spalte um spalte füllt und
bei manchen fragen zögert (kennst du 7 waagrecht?)
die sonst jemand anders weiß

vater ist zweiundfünfzig jahresringe
alt und gemasert wie ein esstisch
wenn das bein wieder wegbricht stelle ich zur stütze
eins von meinen drunter
damit sonntagmorgen an ort und stelle bleibt

alles ist gerecht geteilt
die fotos von früher in der mitte
geschnitten dass jeder eine hälfte kriegt
sie hängen jetzt hoch- statt querformat
als ob es immer so war

wenn ich vater besuche sitzen wir
auf neuen sesseln vor alten wänden
er reibt sich manchmal noch über die stelle
an der einst ein ring in die haut schnitt

ob da eine kerbe sei
ein letzter kuss ein letzter brief? ein
abschied vielleicht

weine nicht, es ist doch nur holz

Anne Magdalena Wejwer
1997

freitagmorgen
[was weinst du?]

wir stehen im garten
meine mutter hat
extra einen kuchen gebacken
leichenschmaus
aber ich schmecke nur sägespäne

wir fühlen uns alt und morsch
ich und mein holz
die sonne scheint
vater hantiert mit der bohrmaschine
mir wird langsam schlecht

allways look on the bright side of life
[keiner lacht]

wir warten
mein vater ist auf dem holzweg
aber das sieht er nicht
die kopfhörer über seinen ohren
sind orange und viel zu groß

freitag mittag
die vögel sind verstummt
die tränen trocknen in der sonne
wie die wäsche im garten nebenan
"holzkopf" nannte er mich
als könnte ich was dafür
dass ich wie michel bin
nur nicht aus lönneberga

mein vater sagte
mein kopf wäre wie ein schwamm
jetzt fällt er schlaff von meinen schultern
[die jungs von gegenüber machen ein foto]

ich und mein holz

vielleicht waren gar nicht wir das problem
sondern mein vater denn
mein vater hat ein loch
da wo sein herz ist

warum sonst hat er mich ans kreuz genagelt

?

Holzpüppchen

Kim Nike Wiederhold
2000

früher als ich noch eine junge Kiefer war
genoss ich die freiheit und wuchs richtung sonne
bis man mich fällte
sie rissen mir keinen zacken aus der krone
sondern sägten sie vollständig ab
fein säuberlich hackten sie mich in blöcke
systemeinheitsquader des bildungssystems
entleibten mich von meiner rinde
ich fühle mich nackt

"anders, anders"
sagte meine mutter als sie mir ein puppengesicht schnitzte
schnitt zu viel ab, korrigierte mit schmiergelpapier
mein vater hat ein loch in mich gefeilt als er "half"
ich wurde weniger, verlor mich selbst
keine ecken und kanten – alles aalglatt
eine karikatur meiner selbst

vorm spiegel brach ich meinen letzten kleinen zweig ab
neurosenperfektionistisch
borderline-narzisstisch
begebe ich mich auf fehlersuche
ich schleife
weiter, immer weiter
späne für späne und
träne um träne
bis das holz beinahe brennt, bereits raucht
bis hin zur makellosigkeit; zum aufhören zu arrogant
werde letzendlich nur verbraucht

bin vollkommen ausgebrannt

Wir erzählten euch von Vätern mit Löchern in den Händen, abgeschnittenen Fingern und Doppeldeutigkeiten, ihr schicktet uns Geschichten über an- und abwesende Väter, Rituale und Erinnerungen, Konfetti, Löcher und Asche, Holz und Holzpüppchen und sogar eine "Anleitung zum Stricken eines Rundschals".

"Wir haben ein Loch Zuhause / ein schwarzes Loch / das alle W o r t e verschluckt / nur die Gedanken nicht", "anders, anders" / sagte meine mutter als sie mir ein puppengesicht schnitzte" und "vater ist zweiundfünfzig jahresringe alt / und gemasert wie ein esstisch". Ein anderer "vater ist auf dem holzweg / aber das sieht er nicht". Einem nächsten wird zugerufen: "Vater, auf dem Nachhauseweg / wusste ich das Mauern-Grau / ist nicht unser Fassaden-Blau, / fand trocken wieder heim",  "weil wir endlich sehen dass hier alle Fäden zusammenlaufen / Unser Schal hat keinen Anfang und kein / Ende".

Vielen Dank für eure Texte im Februar und herzlichen Glückwunsch an die sechs Gewinner*innen!