Unsere Gewinner*innen im August 2018
Wir gratulieren den sechs Gewinner*innen zum August-Thema „Aber uns reicht das nicht“! Es ist eine Zeile aus Silke Scheuermanns Gedicht „Dodo“; darin richtet sie sich direkt an den ausgestorbenen Vogel „Neben dir spazierten immer mehrere Himmel einher. Ausschließlich freundliche andere Arten. Nun ja – bis wir kamen.“
Fasching
trockene Zungenspitzen kräuseln
sich die Eckpunkte des Gefieders
nach innen gewölbt ein laues Gemurmel
in der Menge
der Reiher kreist Ringe über dem leeren Gewässer
der Eisbär tappt in ungleichen Schritten sucht
sich Essen auf dem Buffet doch es gibt nur
Krümel die Krallen der pelzigen Hand fassen Luft
im Dschungel aus Plastik die
Schemen von Fremden
Flügel und Federn die fallen und vertrocknen
in kleinen Wolken verpuffend
Girlanden aus Reißzähnen
spannen spitze Schatten zwei
Bienen verfliegen sich im Labyrinth
der Metallkübel
der Wasserhahn geht nicht zu schon tropft
es auf den Fliesen in traurigen Tönen ein riesiges
Meer all die Tiere bereit zum Ertrinken
jemand ruft zum Gruppenfoto dass der
Eisbär nicht da ist merkt niemand
dénouement
und wie sieht die zukunft aus—
wer stellt die frage, wer
schreit sie in die abgründe bitte
meine damen meine herren
sie werden gebeten, in den abgrund zu schreien
- alternativ abbitte
an der supermarktkasse
denn wer zieht schon freiwillig die
hände durch den dreck
der auf hochglanzvisionen
wie tinte auf papier
seine öden -fakten fakten fakten-
spuren hinterlässt
?
die letzte reihe
steht uns noch am besten
sintflut on the silver screen und jeder seine
popcorntüte voller granit
und als wäre man
vorab entschuldigt für dinge nur
weil sie nie zuvor, wo ist das heldentum wenn man es
und das mothership
und die Eine Große Geste
wenn das meer und ich uns anstarren
und ich für sie die toten vögel zähle
dann will ich das
und dass es vorbei ist
und so
:
ein verstaubter fatalismus wie ein bildband
im keller
voller wall street und gewehre und kaltem kaffee
eine bitterkeit-scham in
schwarzer seide sie reicht mir den gin sie
sagt ich soll lernen
den treibsand bis zur hüfte
endlich zu akzeptieren
die roten käfer auf den mauern
vermisst niemand, wir haben unsere
rosarote
androidenhaut
und sie wächst weiter
! und ich nehme ihre hände, und ich nehme den flieger
—we consider ourselves to be a powerful culture—
mein nacken ist schuppen manchmal, rippen
sind gräten
ein schnappen wie die gartenschere
des nachbarns,
der ewig die hecke schneidet
trieft in meine prähistorischen ohren
das blut von etwas krepierendem rauscht in der ferne und ich gleiche
den druck aus und schalte den laptop an
wir = die wölfe ?
heulen spricht von weniger
lungenkapazität
als die lichtgetränken
autobahnen
und doch rennen wir wie sie rennen
vor ihnen weg als rannten wir
übern zeitstrahl der
erdgeschichte von wald zu wald zu wald zu weit
weit rein ins maul der anthropozähne
sind explosiv geladen
wie geysire
mit alltag und sound und mit großen reden
wir sind gott™ mit den fingern
im kabelsalat unserer art, wir sind wachsfiguren
im steinzeitkabinett
schliddern entlang
des hockeyschlägerdiagramms
bis wir
das himmelszelt durchbrechen
rauf ins all und schubsen
hier da
was oder wen durch die luftschleusen
denn hier oben
gelten andere regeln und was zurückbleibt
bleibt zurück
Evolution des Menschen
Aus: Die Vernichtung der Arten durch unnatürliche Suchtwahl
I
Die Evolution des Menschen beginnt nicht
mit dem Australopithecus oder anderen nichtssagenden Fachbegriffen
Sie beginnt mit riesigen grünen Wäldern kühlen blauen Meeren hohen schneebedeckten Gipfeln mächtigen Gletschern
Sie beginnt mit einer gewaltigen Formfülle an Pflanzen und Tieren
auf einer Erde die atmet in einer Zeit in der ihre Lungen noch funktionierten
II
Aber dem Menschen reicht das nicht.
Nichts liegt ihm mehr an seinem so treffend benannten Hohlmuskel als seine Daten
Weil Besitz so leicht besessen macht
Und so fällt er der Privatsphärenparanoia zum Opfer und der kalten Erde zu Füßen
Auf der Suche nach einer kleinen Nische in die er passt
Und was nicht passt wird passend gemacht
Das dachte er vielleicht aber eigentlich dachte er gar nicht
Als er seine Messer in den Rücken der Meere rammte
III
Aber dem Menschen reicht das nicht.
Wenn er der Liebe fähig ist dann gebührt sie der Architektur
Er beginnt schon früh sich seine eigene Realität aufzubauen
Zuerst Legoklötze dann Wolkenkratzer dann Straßen dann Grenzen
dann Waffen dann Folterinstrumente dann Kerker und zuletzt Friedhöfe aber nur davon nie genug
Und in seiner Neuronenmetropole in der Nächstenliebe nur ein eingeschlagenes Fenster in der rissigen Fassade auf der gesperrten Straße der Bescheidenheit ist baut er weiter
Immer höher in den Himmel hinauf streben seine Gedanken während seine Füße die Schritte in die andere Richtung umso schneller gehen
Ach könnte er sich nur selbst sehen wie er immer vor dem Abgrund wegrennt um genau daran wieder zu Grunde zu gehen
Aber er lächelt darüber nur affektiert in die Linse klatscht seinen Dämonen einen Emoji ins Gesicht
#lovemylife
Bevor er sich weiter auf seinem Marathon der Lügen hetzt
Gefolgt von 50,000 „Freunden“
auf der Suche nach Menschlichkeit
IV
Aber dem Menschen reicht das nicht.
Und während er über die Trümmer seiner Träume jagt und inzwischen im Marianengraben verschwunden ist
Und sich fragt ob Geothermie auch nur eine Erfindung der Chinesen ist und wie tief er noch graben muss bis es nicht mehr kälter wird sondern wärmer
Und während von allen Seiten ein Platzregen von Likes auf ihn niederprasselt und ihn unter ihrer Flut zu begraben droht
Wird ihm erst bewusst wie einsam er wirklich ist
Als sich die Erde über ihm schließt
V
Die Evolution des Menschen endet nicht
mit seinem Untergang oder den Millionen die durch seine Hand verursacht wurden
Auch nicht mit seinem Ruheschlaf oder seiner Dankbarkeit nach all diesen Meilen in der Kälte wieder in die warme Umarmung der Erde geschlossen zu sein
Nein in ihm schlummert noch immer eine unheilbare Sucht nach Freiheit Unabhängigkeit
Menschsein
Wir können nur hoffen dass er noch lange schlummert
Denn für einen zweiten Ausbruch des Vulkans „Mensch“
Reicht es nicht mehr
Anekdote ohne Gleichgewichtssinn (ein theoretischer Film)
Dodo, warum bist du nicht mehr? Was hat man dir getan, Dodo?
–
Homosapienstreibtseinekrallenindasfleischeinernaturdieihnschuf
Animalischetriebemordenjedengedankenaneinmittel
Gibtkeinmittelgibtnurlebenundlebendegibtnurtotundgetötete
Jederschrittaufverbranntererde
Verwesungklebtsichindieluft
Jedebewegungeinbotedesgrauensgesandtalsdunklerhenker
Gibtnurlebenundlebendegibtnurtotundgetötete
Amhorizontdiegequältenschreie
–
Dodo, warum bist du nicht mehr?
Schnitt!
Man gewöhnt sich daran, wenn man nicht hinsieht.
All diese Gesichter ohne Namen. All diese Muster ohne Farben.
Grau sind die Labore in denen wir euch machen.
Falscher Ort, falsche Zeit.
War es Mord? Nun ja, ihr kamt nicht weit, als wir euch des Lebens nicht mehr wert empfanden.
Doch im Moment des ersten Atemzugs – man wollt es wär der erste – da bleichten alle Herzen und man besann sich, warum wir sie gleich noch vergaßen, eure Schmerzen:
Ihr seid unser Gut. Ihr seid unser Wille!
Man könnte sagen unsere Macht ist absolut.
Versteht: Wir allein sind der Sinn! Wir sind das Lot!
Wir sind Alpha bis Omega, Leben und Tod!
Schnitt!
Siebeneinhalb Milliarden Exemplare traben durch die Manege.
Die Attraktion: Der Drahtseilakt.
Eine höchst redundante Darbietung. Zu Beginn schwach, im Mittelteil stark nachlassend, gegen Ende hässlich, obgleich mit leicht ästhetischem Abgang. Grazie fand sich zu guter Letzt nur am Boden der Tatsachen.
Man sagt, es fehlte das gewisse Gleichgewicht.
/Kinder
Ich habe eine Fahrradtour gemacht / gelacht und gesagt ich habe doch nur so getan / Ich wollte doch niemals so werden wie sie in ihren vermoderten Einfamilienhäusern / den Traum der Einfallslosigkeit träumend / Wo ist meine Gelassenheit mit der ich sie alle verachtet habe / meine Gewissheit es nie soweit kommen zu lassen
Ich wollte die Welt retten / hatte den Plan schon vor allen anderen / Nun schwimme ich zwischen den Schollen aus zerschossenem Land / sammle ausgebeutete Worte / mache Fahrradtouren / an Orte die es bald nie gab / ich warte
Manchmal halte ich es nicht mehr aus / Dann schaue ich nachts meiner Mutter beim atmen zu / Manchmal wünsche ich mir auch so zu atmen / den Tag einfach fort
Mama du hast mir nicht nur das Leben / sondern auch den Tod geschenkt / Ich trag ihn jeden Tag mit mir herum / Schleif ihn mit einer Hand unbedacht am Boden entlang / Wie ein Kuscheltier zum dritten Geburtstag
Mama ich will kein Kind bleiben / Die Welt ist so voller Kinder / die blindvoll nur das Lachen verlernt haben
Ist es wahr / was sie sagen / dass die Welt enden wird / Irgendwann an einem Tag / der eigentlich Frühling gewesen wäre / Ist es wahr dass wenn wir fort sind / nie etwas gewesen sein wird / dass es uns / dann / nie / gegeben / haben / wird
Glasaugen
Seit ich klein bin
Meide ich das
Jagdzimmer -
Vaters Ein und Alles
Sein Stolz
Niemals war das ich.
Seine Stimme
Als Spinnweben im Türrahmen
Seine Hände
Die lieber Handschuhe trugen
Als ein Kind
Und zwischen Brokatwänden
(S)eine ausgestorbene Welt.
„Der letzte seiner Art“
Kein Weg zu lang
Für seine Sammlung.
Nie war es genug.
Ausradiert. Fortgewischt.
Für deinen Willen
Immer weiter
Immer mehr
Um zu spüren
Sie sind unter dir - widerstandslos?
Gläserne Augen
Undurchdringlicher Blick
Starren sie
Mich an
Sehen mehr als er jemals vermochte.
Vielleicht ist es leichter
Für Glasaugen.
Ruta Dreyer, Pernille Leu, Jamal Lkhaouni, Sally Liu, Anna Schlechter und Angelina Schülke ließen sich von dem Szenario inspirieren. In ihren Gedichten ist die Rede vom „Dschungel aus Plastik“, vom „Labyrinth der Metallkübel und von einem „zeitstrahl“, der „weit rein ins maul der anthropozähne“ führt. Die Lektüre lohnt und mag anregen über die Chancen einer zweiten Schöpfung nachzudenken.