Die lyrix-Jahresgewinner*innen 2023 stehen fest!

Zum 15. Mal kürt der Bundeswettbewerb für junge Lyrik lyrix die Jahresgewinner*innen! Wir gratulieren herzlich allen Preisträger*innen!

Aus 144 Gedichten, die im Jahr 2022 jeweils als monatsbeste aus der Gesamtzahl von 1.529 eingereichten Gedichten prämiert wurden, wählten zwei Jurys die 24 besten Texte aus.

Im Juni werden die Jahresgewinner*innen der Altersgruppe 15–20 zu einer fünftägigen Reise nach Berlin inklusive Schreibwerkstatt, professionellem Sprechtraining und weiterem literarischem Rahmenprogramm eingeladen.

Höhepunkt der Reise ist die öffentliche Preisverleihung, die im Rahmen des 24. poesiefestival berlin am 16. Juni 2023 unter der Moderation von Julia Dorsch in der Akademie der Künste stattfindet (Beginn ist um 14 Uhr im Hanseatenweg 10, 10557 Berlin).

Zur diesjährigen Jahresjury der Kategorie 10–14 Jahre gehören Jan Drees (Literaturredakteur, Deutschlandfunk), Claudia Maaß (Didaktikerin und Literaturvermittlerin), Rojin Namer (lyrix-Alumna) und Arne Rautenberg (Lyriker).
Die Jury der Kategorie 15–20 Jahre setzt sich zusammen aus Malte Blümke (Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise e.V.), Thorsten Dönges (Literarisches Colloquium Berlin), Norbert Hummelt (Lyriker und Übersetzer), Clara Leinemann (wortbau e.V.) und Daniela Seel (Lyrikerin und Verlegerin).

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 10-14

und bunt ist schöner als grau

Banu Beinhauer
aus Münster, Jahrgang 2008

ich habe mich bunt angemalt
und habe mein leben
mit farben bedeckt.
und ich stand lachend im regen,
der all meine trauer von
den schultern wusch, mich
all meine sorgen vergessen ließ.
meine schuhe kariert und
meine socken bunt gestreift.
und ich war der grund,
warum die welt so farbenfroh bleibt.
lief durch saftgrüne wiesen
mit klatschrotem mohn.
strahlte gelb wie die sonne
auf des himmels blauen thron.


und jetzt müssten hier
eigentlich die verse kommen,
in denen es dunkel wird.
und all der glamour, all der glanz
seine farbe verliert.
doch diesmal gebe ich nicht klein bei.
werde nicht wieder teil dieser dunkelheit.
weil das leben ist bunt
und nicht von schatten durchdrängt
und ich werde wieder die sein,
die an regenbogenkleidern hängt.

 

Zum Monatsthema: Die eine Kachel war knallgrün

Banu Beinhauer, (*2008), aus Münster. Gedichte werden am liebsten an ruhigen Orten verfasst in der Anwesenheit fremder Menschen, die aus sicherer Entfernung beobachtet werden können. Lyrik und Prosa begleiten sie von klein auf. Sie schreibt ausschließlich Gedichte, da ihr Geschichten zu lang und wuselig sind. Auch wenn sie sich diese dennoch ausdenkt. Sie ist ein Mensch voll Sehnsucht nach irgendwas, was Leben heißt. Allerdings ist sie sich noch im Unklaren darüber, wie sie dorthin findet. Neben dem Verfassen von ihren täglichen „Ich schreib über irgendwas, was ich gerade denke“-Gedichten füllt sie ihr Leben mit dem Erklingen von Musik, dem Vorwärtsbringen ihres Fahrrads und damit, sich zu viele Gedanken zu allem und jedem zu machen, um einen Bruchteil von ihnen später in einem Text niederzuschreiben.

Heimatglück, und doch nicht

Hanna Christel
aus Geislingen an Steige, Jahrgang 2008

Heimatboden, Heimatglück,
Und ihr ruft, ich soll zurück.
Muttersprache, Heimatstadt,
Ihr sagt, ihr hättet Fremde satt.


Grundschulfoto, Abschlussfahrt,
Erinnerungen, aufbewahrt.
Normales Leben, durchschnittlich.
Und leider eben doch auch nich’.


Ich liebe meine Stadt,
Meine Leben, dieses Land.
Und werd’ von euch als deutsch,
Doch nicht anerkannt.

 

Zum Monatsthema: als hättest du es dir eben ausgedacht

Hanna Christel, *2008, Geislingen an der Steige. Schreibt manchmal Gedichte und weiß nicht genau, wie sie es tut. Sie ist Fan der Marvel und Star Wars Filme und Serien und hat die Fähigkeit, stundenlang am Stück zu lesen. Zwei Tipps von ihr: 1) Schreibt Gedichte, die euch gefallen und gebt nicht auf, auch wenn jeder um euch herum besser zu sein scheint und 2) Pendelt nicht mit der Bahn.

Beta-Version*: π-ple

Gabriel Jakob Hoffmann
aus Grünwald, Jahrgang 2011

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We are lost π-ple.
Wir sind verirrt in den Träumen der anderen.
Unter der Sternenkuppel
Schreiben wir tweets an die Fremden.


We are lonely Affen.
Wir schweben schwerelos
In farbenreichen Spielwelten
Auf einem Diamantenblock.


Jeder fliegt allein
In Lichtgeschwindigkeit.
Laut mir und Albert Einstein
kann das nur theoretisch möglich sein.


We are Geschöpfe Gottes.
We live in strange times.
Platziert im krummen Raum
Fühlen wir uns @home.


We all are the π-ple
In demselben Schwarzen Loch.
Uns alle verbindet das Pi und der Piep
Am Anfang des Wortes people und
Am Ende des Lebens auf dem EKG.

__/\__/\__/\__________________________
* Beta-Version – ein früher Entwicklungsstand
einer Software.
[!] [!] [!]

Sicherheitswarnung für den Planeten Erde:
#WeArePeople
Richte nie dein Laserschwert auf uns!
Wir lassen auch den Bogen und den Pfeil fallen.
Störe nicht den Schlaf der Elefanten,
Die auf dem Rücken der Sternenschildkröte ruhen,
Und unsere einzigartige Welt festhalten.
[!] [!] [!]
47° 25′ 15.838″ N, 10° 59′ 7.314″ E
– Komm in Frieden und finde mich!


– Ich bin schon hier. Direkt hinter dir!
_____________________/\___/\___/\___/\__/\__/\__

 

Zum Monatsthema: Das Kontrollzentrum, das ständig drängelte

Gabriel Jakob Hoffmann, Grünwald, Skorpion des Jahrgangs 2011. Schreibt kurze Geschichten, die manchmal zu lang werden und irgendwann zu einem Gedicht zusammenschrumpfen. Inspiriert von dem Weltraum landet er oft mit seiner Lyrik irgendwo im All. Aus seiner Sicht sind die Gedichte wie Bilder, die keine Wände und Nägel brauchen, um einfach im Kopf rumzuhängen.

Der geheime Brief in meiner Schublade

Ranya Jeddou
aus Freiburg, Jahrgang 2009

Ich wollte einen Brief verfassen

an meinen Großvater der fragte wie ich meine Zukunft planen
würde


Ich zögerte
behutsam denkend

Ich schrieb:

Mein Kopf soll erhoben sein
und das mit Recht
Ehrlich lachen will ich können
nicht nur als Trug
Mit Stift und Papier in den Händen
so dass alle die die einst meine Worte nicht hören wollten
meine Sätze lesen – verschlingen – werden
auf einer beleuchteten Bühne
vor einfach allen
in einem roten Kleid


Ich will mehr sehen
von unserem sterbenden Rund
– die Sterne will ich am besten von so vielen verschiedenen
Positionen wie möglich betrachten –


Ich will jemand sein der deine Hand hält
wenn dir der Nachthimmel ein wenig zu nah gerückt ist


Eine Frau die weiß was sie tut
die mit unerschütterlichem Lächeln den Abgrund hinab springt
ohne erst einen Stein hinunter zu werfen

– oder vor der Landung zu ängsteln –


Ich will jemand werden der nicht nur in seinem Kreis geblieben ist
sondern sich einen eigenen Weg hinaus gekämpft hat


An der Spitze des Berges will ich stehen
an dessen Fuße man auf Kohlen lief
– mit wunden Füßen und dennoch am Ziel –


Ich nahm den Brief und den passenden Schlüssel
und schloss ihn in eine leere Schublade
ich nahm ein anderes Blatt und schrieb ein einziges Wort darauf :


Autorin

 

Zum Monatsthema: Was sind Ihre Ziele im…?

Ranya Jeddou, (*2009), Freiburg. Schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und ihren eigenen Roman. Sie liebt das Schreiben, weil es immer wieder aufs Neue fordert und Menschen auf eine besondere Art verbindet. Wenn Ranya nicht gerade liest oder selbst etwas schreibt, macht sie Karate oder unternimmt etwas mit ihren Freunden.

Staublandschaften

Merle Koch
aus Reken, Jahrgang 2008

Miniaturmodelle markanter Bauwerke. Szenarien. Reelle
Objekte ohne Bedeutung. Gebäude, nur Zentimeter groß.
Menschliche Wesen ohne Nationalität. Eine Urwaldszene.
Modelleisenbahn. Irgendwo ein USB-Kabel. Ein römisches
Kolosseum. Heftklammern. Bleistiftminen. Komplexe
Nachbildungen. Historische Schlachten. Kunststoffmodelle.


Zum ersten Mal seit letztem Frühjahr. Ein Staubsauger.
Gebäude erzittern und zerfallen. Die menschliche Bevölkerung
ausgelöscht.

 

Zum Monatsthema: eine leichte verschiebung des strömungsverlaufs

Merle Koch, *2008, Reken, geboren in Borken. Schreibt Lyrik in ihrer Freizeit. Wenn sie nicht grade schreibt oder liest, verbringt sie ihre Zeit gerne mit Zeichnen und Musikhören. Das Wichtigste an Gedichten ist für sie, mit wenigen einfachen Worten Dinge in Szene zu setzen und Gefühle hervorzurufen.

Zwischen Realität und Traum

Thyra Kramer
aus Ratekau, Jahrgang 2007

Der Raum,
irgendwo zwischen Realität und Traum,
eingebettet in Nebel ohne Sicht auf was dahinter liegt,
als ob er mich beschützend in seinen Armen wiegt
und geheim hält, was sich außerhalb befindet,
sich enger um meine Gestalt windet,
während er vorsichtig meine nackten Arme berührt,
meine feine Haut seinen kühlen, schwerelosen Atem spürt.


Ein Ticken, von weit her, fast aus einer anderen Welt,
die die neblige Umgebung erhellt,
gleichmäßig wie eine Uhr tickend,
leise, doch nicht in dem Nebel erstickend.
Es war, als befänden sich unendlich viele Uhren in diesem Raum,
oder war es doch ein Traum,
als stünde ich zwischen Raum und Zeit,
so schwerelos und befreit.


Eingebettet in Nebel ohne Sicht auf was dahinter liegt,
während er sich immer weiter an mich schmiegt,
mich plötzlich zu ersticken scheint,
hat er sich nun mit dem Ticken der unzählbaren Uhren vereint,
und nun wollte er sich auch mit mir verbinden,
war nicht fähig, mich der so durchsichtigen Kraft zu entwinden,
und ich ergab mich schließlich dem Raum,
in Hoffnung, er war nur ein erdrückender Traum.


Plötzlich kitzelte ein Sonnenstrahl mein bleiches Gesicht,
es erfüllte mein Herz, das warme Licht,
feuchter Rasen zwischen meinen Zehnspitzen,
auf ihm sah ich fröhliche kleine Marienkäfer sitzen.
Die ganze Wiese war mit den buntesten Blumen bestückt,
sie war mit unzähligen Farbtupfern geschmückt,
Nebel und Ticken plötzlich fort,
fort, fernab an einem anderen Ort,
stattdessen erfüllt nun ein entferntes Plätschern eines Flusses
meinen Traum,
meinen Traum in diesem friedlichen und liebevollen Raum…

 

Zum Monatsthema: wie der neue raum

Thyra Kramer, *2007, Ratekau. „Inspiration zum Schreiben finde ich, wenn ich mit meinem Hund in der Natur spazieren gehe, um meine Gedanken und Ideen lyrisch festzuhalten. Vor allem von Stilmitteln und der inhaltlichen Wirkung von rhetorischer Gestaltung bin ich fasziniert.“

die weite des lebens

Rahel Krückeld
aus Münster, Jahrgang 2008

ich möchte…
das leuchten der nordlichter bestaunen
einen affen auf meiner schulter sitzen sehen
die schwerste route an der kletterwand erklimmen
mitten im licht auf einer bühne stehen um meine texte mit der
welt zu teilen
meinen namen auf einem buchcover lesen
und mich im dschungel verlaufen
auf der beerdigung meines vaters die melodie von pippi langstrumpf
spielen
in einer anderen sprache träumen
torte essen ohne an die kalorien zu denken
die unendlichkeit des meeres spüren
mich so vollsaufen dass ich das gefühl habe zu fliegen
das gefühl haben zu fliegen ohne mich vollzusaufen
schmetterlinge im bauch haben
und so richtig guten sex
etwas illegales tun was dennoch richtig ist
die welt ein kleines stückchen besser machen
mit einem segelschiff über den atlantik fahren
einem känguru in die augen sehen
tanzen bis ich alles um mich vergesse
ich möchte…


glücklich sein

 

Zum Monatsthema: Was sind Ihre Ziele im…?

Rahel Krückeld, *2008, Münster.

Wurzellos verwurzelt

Anastasiia Lebedynska
aus Hannover, Jahrgang 2007

Zuckerwatte, süße Freude, unschuldige Früchte,
Sie alle schlagen Wurzeln, ausgehend von dem Anfang, von dem
Kind,
Welches die Zeichnung nie verstand, sondern vervollständigte,
sich nie vor Lügen fürchtete,
Halb blind, es trug eine traumhafte Brille, wo Farben sich endlich
zeigten, nur nicht ganz so, wie sie


     eigentlich sind,
betäubte Vorstellung, der Drang, es zu verdrängen, ragt weit
über das eines Kindes,
Vielleicht erinnert es sich nicht mehr, war lange schon kein Kind
mehr, soweit es weiß, zumindest.


Rauer Regen, süßer Schmerz, verräterische Frucht,
Wüsste ich es vorher, wär’ die Verlockung nie so gefährlich,
Ehrlich, wüsste ich es vorher, käm’ ich nicht immer wieder zu
dieser kranken Sucht,
Streben nach Wachstum, doch alle Türen sind verschlossen,
Vielleicht finde ich den Schlüssel nicht, auch wenn ich verzweifelt
danach suche,
Zu unentschlossen für Altersgenossen, es handelt von der bloßen
Unsicherheit.


Wie soll man sich auch sicher sein,
Wenn man sich ewig wiederholend gefangen findet,
Und einen die Unwissenheit sowie die bitter-süße Frucht berechtigt
daran bindet?

 

Zum Monatsthema: tiefsinnigeres wurzelgemüse

Anastasiia Lebedynska, 15 Jahre, Hannover. Möchte gerne Dichterin oder Schriftstellerin werden. Gedichte schreibt sie aus einem Impuls heraus, ohne viel Vorplanung, sondern rein aus Gefühl. Dabei ist sie inspiriert von ihrem Leben, der Natur und fasziniert von der Psyche des Menschen.

Mein Kleeblatt vermisst das Glück

Lenke Molnár in Zusammenarbeit mit ihrem Mitschüler Leano Weisskopf
aus Berlin, Jahrgang 2009

Für ein gelungenes Kleeblatt nehme man
Sonne, die die Dunkelheit bemalt.
Leuchte hell!
Wasser, in dem Träume schwimmen.
Tauche unter!
Erde, die den Neuanfang kreiert.
Fang an!
Saat, die der Koffer voller Wünsche ist.
Pack aus!
Zeit, die es gedeihen lässt!
Warte ab!
Und eine Hand, die pflückt.
Nimm es!

 

Zum Monatsthema: wie der neue raum

Lenke Molnár, 13 Jahre, Berlin. „Mich interessieren Gedichte, weil der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind und man mit Worten eine unglaubliche Atmosphäre erschaffen kann. In meiner Freizeit lese, zeichne ich gerne oder veröffentliche selbstgeschriebene Geschichten auf Wattpad.“

Faust 1, YouTube-Version

Tonda Montasser
aus Berlin, Jahrgang 2011

Traum-Speicheldrüse (3 a.m.)

Alltag in Hybris:
Gott spielt wieder Messias.

Dichtung, ein Spiel
mit geklauten Bibel-Begriffen,

Epiphanien in homöopathischer Dosis,
sich sehnend nach Glossolalie…

Und dann
geht die Sonne auf.

Wiedererkennungs-Gegenwart (6 a.m.)

Wache auf…
Weiße Unterschrift im Himmel.

Rhythmen der Galaxien…
Terrassenmassakerkinder fallen

nach unten, verwandeln sich
in Gottheiten.

Überschätzter Metarealismus
schmort zwischen Mandeln.

Als sei an allem Leben
der Blinddarm schuld.

Bambus-Spaziergang (5 p.m.)

Gehe nach draußen mit 42.
Gespräche wie zwischen Gott und Mephisto:

„Menschheit gleich Reality-TV!“
„Meine Schöpfung ist sinnvoller als dein Swimmingpool!“

„Du liebst es doch auch, Menschen zu missbrauchen!“
„Wurm, blutige Maden sollen durch deine Augen kriechen!“

Mephisto, beleidigt, kreiert Regenbogen um Regenbogen,
findet nur langsam zum Spaß zurück.

Und dann
geht die Sonne unter.

Erlebnis-Namenschild (10 p.m.)

Die Nacht in Helligkeit verbringen:
Auf dem Spielplatz der Miserablen,

der Ganz-allein-Seienden,
der Jederzeit-alles-Erwartenden,

schaukle ich hin und her…
Dämon und Rebell.


43 kommt, aka Nickbackbo,
zerrt mich mit in die Milz der Moral.


Überschüttet mich
und die Zensur der Zungen


mit Liebe.


RIP Perfektion (3 a.m. again)


In meinem Apartment.
Mixe rorange Orangen,
liebe diesen Tag.


Bin Beherrscher
der Glossolalie,
no Hybris:


Erhebt euch, Seelen,
mit mir zur Epiphanie!


Ich, der Dichter,
im See der Agonie,


träume weiter…

 

 

Zum Monatsthema: Tagesboten

Agony (Tonda) Montasser, *2011, Berlin. Begann angeregt durch Texte von Martin Piekar im ersten Corona-Lockdown zu schreiben und im zweiten zu dichten. Ausgezeichnet beim THEO 2021 und 2022, beim TJA 2022 und bei lyrix 2022. Montasser liebt Actionwellen, Beatboxen und Yu-Gi-Oh-Turniere, bingt alles von der Youtuberin Coldmirror und will später Schreiben studieren.

Mein Zimmer

Nika Steiding
aus Berlin, Jahrgang 2007

Wenn ich mein Zimmer verändern könnte, würde ich
Wände verschieben und Türen verschließen
Fenster bauen und Schlösser reparieren
Alles ein bisschen größer und dunkle Tapeten


Aber das geht nicht
also bleibt mir nur die Wahl
Möbel zu verrücken und auszusortieren
Bücher zu stapeln und Geheimfächer zu bauen
Planen und Verwerfen
dabei aber nicht zu verzweifeln


Ist aber nicht genug
andauernd stapelt sich alles auf dem Boden
Staub sammelt sich in den Ecken und Dreck unter den Möbeln
unnützes Zeug lagert in sinnlosen Regalen
und manchmal, manchmal


ist alles zu viel
fühlt sich dreckig und unordentlich an
kann man auch nicht verdenken
ist schließlich so


Aber manchmal
in diesen besonderen Fällen
würde ich gerne alles niederbrennen
zusehen wie Erinnerungen in Flammen aufgehen
und alte Kuscheltiere zu Asche werden
Sehen wie alles was zu viel war zu Rauch und Nebel wird


Und dann
würde ich alles wieder aufrichten
neue Grundmauern ziehen und Wände streichen
Möbel zurechtrücken und Teppiche verlegen
Bilder und Spiegel an die Wände hängen
und vielleicht eine Topfpflanze aufstellen
Mein Zimmer in ein Paradies verwandeln


Nur hab ich das Gefühl, dass es wieder zu einer Hölle werden
würde
Dass ich wieder von vorne anfangen würde
Bilder runter reißen und Wände zerkratzen
Öl über neue Teppiche und zerschlagene Tische gießen
Und es dabei vielleicht sogar ein kleines wenig genießen


Dann dabei zusehen, wie ein Streichholz zu Boden fällt
vielleicht würde ich es auch schnipsen
sähe bestimmt toll aus, wie alles lichterloh aufgeht
und endlich zu einem wird
Einem gleißend hell Brennendem


könnte aber auch gut sein, dass ich es dann vermissen werde
Ist immerhin mein Zimmer
Aber es war auch mal ein Zimmer und irgendwann wird es
wieder ein Zimmer sein
Jetzt gerade ist es aber mein Zimmer


Vielleicht versuch ich es doch noch mal mit Möbel verrücken.

 

Zum Monatsthema: um das haus errichte ich eine stadt

Nika Steiding, *2007, Berlin. Schreibt Gedichte und Geschichten. Am liebsten über andere und nicht über sich selbst.

Meine graue Stadt

Freya Werner
aus Egling, Jahrgang 2008

Ich ersinne die graue Wolkenkratzerstadt
Sie besitzt:
a) Fabriken, mit Maschinen (siehe Nummer Drei)
b) Straßen für Transporter, die auf Parkplätzen stehen
c) Wohnhäuser (siehe „Benötigen*“: b)


Ich schöpfe das Erste:
Erschaffer
Es soll nur beim Erschaffen Glück empfinden
Seine Aufgabe:
Es erschafft:


a) Nummer Zwei:
Handwerker,
sollen nur beim Wiederherstellen Glück empfinden
Aufgabe:
Restaurieren die graue Stadt*
Finden nach 20 Restaurationen den Tod in Nr. 5 (siehe Nr. 5b)


b) Nummer Drei:
Arbeiter,
sollen nur bei Fabrikarbeit Glück empfinden
Pflicht:
a) Stellen mit Maschinen Werkzeuge her
b) Ernten Lebensmittel* aus Maschinen
(siehe graue Stadt* a)
Nach 100 Produkten Tod durch Nr. 5 (siehe Nr. 5b)


c) Nr. 4:
Fahrer,
sollen nur bei Pflichterfüllung Glück finden
Lebenssinn:
Transportieren Dinge und Wesen dahin, wo benötigt
(siehe graue Stadt* b)
Nach 40 Transporten Dekonstruktion durch Nr. 5 (siehe Nr. 5b)


d) Nr. 5
Zerstörer,
Glück nur bei Lebenszweck
Lebenszweck:
a) Destruieren Gegenstände der Stadt
b) Destruieren Nr. 2, 3, 4, 5, nachdem deren Plicht erfüllt ist
Nach 20 Zerstörungen Destruktion durch Nr. 5 (siehe Nr. 5b)


Nr. 1, 2, 3, 4, 5:
Wissen von Anfang an vorhanden,
ersetzt:
Kommunikation
Kreativität
Gefühle
Süchtig nach:
Glück
Droge
Benötigen:
a) Lebensmittel* (siehe Nr. 3b)
b) Schlaf* (siehe graue Stadt* c)


*Zweck: mein Amüsement

 

Zum Monatsthema: um das haus errichte ich eine stadt

Freya Werner, *2008. Lebt in der Nähe von Bad Tölz und verfasst Lyrik schon seit sie schreiben gelernt hat. Inspiriert von so ziemlich allem, versucht sie möglichst das Verrückteste aufzuschreiben, was ihr einfällt. Sie liebt es, durch Gedichte neue Perspektiven zu finden und Möglichkeiten zu erfassen. Nebenbei verliert sie sich in Musik, Fantasy-Romanen und ihrem Skizzenbuch.

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 15-20

wo meine Kindheit liegt

Antonie Beckmann
aus Berlin, Jahrgang 2003

die Zeit steht still
im Hauch von Blau
ein leises Summen in der Abendluft
wo meine Kindheit liegt
nackte Füße auf warmer Mauer
Johannisbeeren mit Zucker
jetzt werde ich erwachsen und du wieder ein Kind
die Uhren ticken und die Wand surrt
während ich die Haut betrachte
die sich über deine Knochen spannt
dein Garten blüht
wie jedes Jahr
während du verlernst zu sprechen
und mir mit deinen Augen sagen willst
dass du keine Kraft mehr hast
ich schaue zu wie die Blumen wachsen
und kann nicht begreifen wie etwas so
schön und schmerzhaft ist


hier steht die Zeit still
im Hauch von Blau
aus Vergissmeinnicht
im Garten hinter Omas Haus

 

Zum Monatsthema: u. dann war es in der abendstunde

Antonie Beckmann, *2003. Ist in Berlin aufgewachsen, derzeit dabei, die Welt zu erkunden und schreibt ihre Texte deshalb am liebsten in Bewegung. Sie mag es, die Flüchtigeit von Gefühlen in Worten festzuhalten, und ist davon überzeugt, dass man Gedichte nicht erfindet – man findet sie.

metamorph

Anna Sophie Born
aus Weinheim, Jahrgang 2004

jemand sagte mir, man müsse anfangen, die welt zu retten.
ich ging also los, im wasser ist das leben entstanden und so fing ich
mit dem wasser an. über körperöffnungen nahm ich die ozeane in mir auf,
ich spürte wellen, sie schlugen von innen gegen meine brust und langsam
begann sich alles zu vermischen. bald wurde ich schwer
(das meersalz und die minerale meines eigenen gewässers)
und auf dem weg in die gebirge: der gedanke an den segler
aus dem nahen hafen. die sweet salty hatte anker geworfen
in meinem gemischten inneren gewässer und konnte nun die tiere bergen.
schwer beladen ging ich ins gebirge, ich wanderte, die meere in mir,
bis zur sichtung gräulicher gesteine. unmöglich, berge zu bergen, die masse
und scheinbar keine verformbarkeit, doch da dachte ich an metamorphite,
sich verwandelndes gestein.
(anmerkung des verstandes: felsenfest, fels in der brandung, steinhart, zu stein
erstarrt
– der verstand versteht nicht immer genug)
ich wartete jahre und jahrzehnte auf produkte der erosion,
alles abgetragene fügte ich meiner masse hinzu.
gebirge falteten sich langsam in mir auf und wurden von meinem wasser
geformt.
gegen die falten wirkte anti-aging-creme, geborgene berge bargen das meer.
wie aber bergen, was immer verborgen war:
sprechende freitagnachmittage, emotionen F.s,
die sichtung pakistanischer briefe,
berührungen L.s,
der mensch N.
die angst vor langsamer verblassung löste erdbeben in mir aus.
erschüttert wellten sich meere wie seen und mein inneres gebirge
verlor den ehernen halt.
nie konnte ich der geborgenheit des unstofflichen sicher sein.
als jemand von plasmolyse und meinem wasserhaushalt sprach,
begann ich zu sinken. meine meere zogen mich auf ihren grund hinab.
gemäß meiner geschrumpften zellen zog ich mich in mir zurück,
begann in den geborgenen resten
mich zu bergen,
stück für stück.

 

Zum Monatsthema: bergen

Anna Sophie Born, *2004, Weinheim. Hat einen Vornamen aber die meisten benutzen nur die erste Hälfte. Genießt sowohl Trubel als auch Stille. Sie liebt Listen, Schnee, Hängematten, den Geruch von Regen und alles an der Nacht. Anna singt oft, besitzt mehr Notizbücher als Schuhe und würde gerne unter Wasser atmen können.

die sache ist,

S. Eslek
Jahrgang 2003

dass hinter dem damm das hochwasser wartet. die sache ist,
dass ich kaum mehr schreibe irgendwie, und das halt immer so
mein weg gewesen war, den damm zu brechen, um zu verhindern,
dass das wasser sich staut. aber ich war so ins einreißen
vertieft, dass ich nie gelernt habe, etwas aufzubauen, verstehst
du? und jetzt sitze ich hier in einer eklig lauwarmen badewanne
voller wörter und ich kriege sie einfach nicht mehr zusammen,
und sie trocknen auf meiner haut ein und ich kratze sie ab und
sie machen den wannenboden dreckig. und ich bin dabei, alles
neu einzureißen, die wanne, mein schreibheft, das haus und den
zaun darum, die stadt und mich auch, und mich treiben zu lassen
im fluss bis meine haut aufquillt und ich strande und trockne und
vom steg gekratzt werde. mich mit dreck vermische und eine
paste werde und matsch werde und an schuhen hafte, und
danach an der straße, und über eine neue stadt verteilt werde, in
die schlaglöcher sickere, und risse in den fassaden, eine wiese
dünge, verweht werde, mich verliere, wie ich meine wörter
verloren habe. manchmal frage ich mich, ob sie schon ganz
diesen körper verlassen haben.


und sich einen neuen geraubt.

 

Zum Monatsthema: um das haus errichte ich eine stadt

S. Eslek [er/ihn], *2003. Würde gerne Raumfahrttechnik studieren oder am Meer wohnen. Lebt stattdessen gerade zwischen Zügen, Büchern, Händen und Krankenhäusern, vampirisch, und glücklicher denn je. Er kam zum Schreiben ein bisschen aus Widerstand und ein bisschen aus Wahnsinn, aber vor allem nur für sich selbst

ICD-10 F42 : Zwangsstörung und verwandte Störungen

Emma Joerges
aus Jena, Jahrgang 2001

differenzialdiagnostische abgrenzung von deinen multiple choice antworten
annäherung / vermeidung
misslingen immer wieder und ich durchkreuze
selbstbeurteilungsfragebögen monochrom / dichotom wie nie
: ja / nein
herdplatte
: an / aus
tür
: auf / zu
hoarding
: haben / haben
haare
: raus / raus
haut
: kratz / kratz
(blutige neurosen direkt über meinem cortex orbitofrontalis)
ich
: lebendig / tot


: stehe an der straße / auf der brücke / am fenster
(was wenn ich springe was wenn ich was wenn was ich springe)
mit den fäusten versuche ich gedankenstränge büschelweise aus meinem
kopf zu reißen
(aber es hängen nur wurzeln und schuppen daran)
: diese körper dysmorphie verwelkender gewebeschichten
: dieses tun ist ich-dyston (mein handeln gehört nicht mir aber wem dann
wem dann?)
: was wenn ich was wenn ich was wenn ich


kittelgestalten pflanzen elektroden in mein hirn und gedanken evakuieren
40 g citalopram

 

Zum Monatsthema: Das Kontrollzentrum, das ständig drängelte

Emma Joerges, 2001, Jena. Aufgewachsen in Krefeld. Studiert Psychologie in Jena, sie spricht Pferdisch auf Sprachniveau B1/B2 und mag Marina Abramović, Erdbeeren, Offene Fragen, Einhörner und Kaffee. Sie ist auf verschiedenen Lesebühnen unterwegs und war u. a. Preisträgerin des 35. Treffen junger Autor*innen in Berlin.

die blasse stadt (julinacht)

Rosa Lobejäger
aus Hildesheim, Jahrgang 2003

das licht rotzt immer noch aus dir
ich will mich aus meiner haut schälen
auf riffen blankziehen den abend
triefen lassen aus allen poren


der starre blick der sich glitzernd
in glasfaserkabeln verhakt
lärm
schlängelt sich durch nervenbahnen
dröhnt; hallt nach
flimmernde großstadtekstase
zwischen u-bahn-station und laken
da schlägt alles mit das pulsierende
das warme


das der fluss ausstrahlt
stehen die arme ausbreiten spreeblick
was man in berlin nicht verlieren kann:
sich selbst, alles andere schon,
den blick fest gerichtet auf den löchrigen himmel
baden in erinnerungslücken
samtblau muss es gewesen sein das
kirschkernespucken im görlitzer park das
zusammenstecken von lebensmodellen
auf deinem bauch da war ein puzzle
aus lauten das ich aß damals
als wir uns die stadt bauten aus
tarotkarten als wir julinacht waren


und ich schweige weil in dir sowieso alles
vibriert
das entwirrt die gedanken die basslinien
die käfer die sonnenflecken das curry
das fett an deinen fingern der versuch
zu poetisieren was sich nie festhalten ließ
die blasse stadt die sanft an meinen
haaren zieht

 

Zum Monatsthema: u. dann war es in der abendstunde

Rosa Lobejäger, *2003. Studiert Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Sie schreibt über Gräben in Körpern und Städte zwischen Stroboskopflecken; dabei versucht sie sich an abstrakten Wortgeflechten, zuletzt in Magazinen wie ’apostrophe, tierindir und dem Jahrbuch der Lyrik 2023.

the problem is

Amalie Mbianda Njiki
aus Leipzig, Jahrgang 2002

the problem is that white sounds so much like right sagt mutter
schält sich die perücke vom kopf eine zweite haut die alle
Schwarzen tragen hast mich nach europa geboren mutter direkt
ins zwischenmeer hinein musste mich selbst an land schwemmen
mutter musste mir den sand aus dem haar kämmen kräuselt
sich wie wellen die ich seit meiner geburt auf meiner zunge
schleppe schmecken salziger als fruchtwasser in das ich wieder
steigen möchte mutter wie in eine badewanne hinein


daheim schmecken mutters hände wund pulen mir die schuppen
von der kopfhaut wie fisch der zubereitet werden muss nein
mutter erstickt mich in engen knoten stickt mir ihr muster auf den
kopf strickt kunsthaar mit ein mutter lass mein haar herab kann
die tante emporklettern mutter kann ich dann prinzessin sein


zuhause ist wenn meine kopfhaut ziept und noch bevor ich
mutter den rücken kehren kann sagt mutter in zerbrochenem
deutsch sie habe eine fluchtroute auf meinen hinterkopf geflochten
die sahara gequert in den tschadsee getaucht vom sanaga
gespült durch den mayombe geschwungen luanda namib dann
kap der guten hoffnung.

 

Zum Monatsthema: grau/aber ohne grauen

Amalie Mbianda Njiki, *2002, Leipzig. Schrieb bislang eher Prosa, bis sie vergangenes Jahr die Lyrik für sich entdeckte. Sie ist Preisträgerin des 35. und 37. Treffen junger Autor*innen, gewann den THEO – Berlin-Brandenburgischer Preis für junge Literatur 2021 sowie 2022 und erhielt eine Einladung zu den „young poems 2023“. Aktuell studiert sie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Denkrichtungen

Amelia Schober
aus Köln, Jahrgang 2007

Ich lasse los, was ich nicht ändern kann.
Los lasse ich, was ich nicht ändern kann.
Lasse ich los, was ich nicht ändern kann.
Was ich nicht ändern kann, lasse ich los.
Was nicht ich ändern kann, ich lasse los.
Was kann ich nicht ändern, los lasse ich.
Kann nicht ich ändern, was lasse ich los.
Kann ich nicht ändern, lasse ich was los.
Was ich nicht kann ändern, ich lasse los.
Was ich nicht kann ändern, lasse ich los.
Was ich kann ändern, lasse ich nicht los.
Ich kann was ändern, lasse ich nicht los.
Ich kann ändern, was ich nicht loslasse.

 

Zum Monatsthema: Die eine Kachel war knallgrün

Amelia Schober, *2007, Köln. Lebt schon seit sie denken kann im Land der Wörter. Sprachen sind ihr Leben und so ist es die Musik und das Lesen. Durch ihre Leidenschaft zu Büchern kam sie schließlich auch zum Schreiben, was ihr eine neue Welt eröffnete und zu einer weiteren Leidenschaft, der Lyrik, führte.

grob vernäht & ausgehöhlt

Michelle Schreiber
aus Leipzig, Jahrgang 2002

deine trauerränder verraten dich
unter deine netzhaut sind die bilder getackert
die welt zerspringt, du willst sie
an einen haken hängen und die last
von deinen lungenflügeln lösen


ich will dir deine schulterblätter
ausstreichen, mit fingerspitzen aus seide
will ich über deine wimpernkränze fahren
aus deinen pupillen das licht extrahieren


deine herzkammern überschlagen sich
deine alveolen bersten
grob vernäht geben sie dich zurück
ausgehöhlt die einschusslöcher


unter meinen fingern kühl der trauerrand
die bänder schreiend gespannt, fremde
stimmlippen legen sich tastend an meine

 

Zum Monatsthema: als hättest du es dir eben ausgedacht

Michelle Schreiber, *2002, Leipzig, geboren in Paderborn, aufgewachsen in Frankfurt am Main. Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Leipzig, 2022/23 Erasmus+-Auslandsjahr an der University of Cambridge. Freie Journalistin u. a. für das kreuzer-Stadtmagazin in Leipzig und (bald) für ZEIT Online.

it’s okay to eat fish cause they don’t have any feelings

Lotti Spieler
aus Berlin, Jahrgang 2004

am bahnhof im park waren viele männer;
und ich direkt wieder
der fisch in der kühltheke.
man pries mich an,
verhandelte,
begutachtete von unten nach oben meinen leib,
um sich auf einen preis zu einigen.
man fragte, ob ich schon reserviert war,
für einen anderen kunden,
ob man mich denn mitnehmen könnte,
für heute nacht.
weil ich nicht reserviert war,
packte der händler mich in fettpapier.
unter dem arm trug mich einer der männer,
und ich sah den anderen fischaugen nach,
wie sie mir leblos zuguckten.
wir waren ja eigentlich alle schon tot.
und als ich dann aufgeschnitten
auf vier tellern lag,
noch heiß und triefend voll fett,
hatten sie mich wenigstens lang genug getötet.
dass sich die fäule bereits ausgebreitet hatte,
in uns allen,
und uns bis auf die greten verdarb.
jene, die sich weitertrug,
in die bäuche unsrer mörder,
und ihnen so sehr den magen verdarb,
dass sie den kleinen finger nicht noch einmal
nach einem fischgericht gestreckt hätten.

 

Zum Monatsthema: Die eine Kachel war knallgrün

Lotti Spieler, *2004, Berlin. Frisst die Welt und speit sie danach halbverdaut auf Papier wieder aus. Projektionsfläche sein, Fleischwolf sein, kaleidoskopische Arbeit leisten – dabei entstehen vor allem Lyrik, Hybridformen und Schnipsel.

ziele – am leben

Alicia Voigt
aus Berlin, Jahrgang 2004

ziele – am leben
bleiben baraye.


wenn sie ihre beine in die luft wirft. wenn sie grinst dabei. randaliert.
ihre haare schneidet. ihre haare fallen lässt. wenn sie sich
scheidet.
wenn sie die augen schließt. wenn sie dir ihren bauch zeigt.
wenn sie nein sagt. wenn sie es schreit.


stürzt, sprengt, stürmt sie das regime.


wenn sie ihre frau liebt. wenn sie keine frau und kein mann ist.
wenn sie ein leben hat mit vollem wert. wenn jede seiner gewalten
nicht tolerierbar ist. wenn sie reist. wenn sie singt.
wenn sie schreibt. wenn sie dich ansieht, du nackte


brennen seine sitten
ist sie revolutionär.

 

Zum Monatsthema: Was sind Ihre Ziele im…?

Alicia Voigt, *2004. Lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt Berlin und findet die Inspiration für ihre Texte auf dem Weg quer durch die Stadt. Am liebsten schreibt sie queer und gegen die Verhältnisse, verfängt sich dabei aber meistens in den Kleinheiten des Alltags und ertrinkt in Synonymsammlungen.

ret·ten

Fanny Walger
aus Marburg, Jahrgang 2004

Präteritum: ret·te·te, Partizip II: ge·ret·tet
schwaches Verb


1. aus einer Gefahr befreien und dadurch vor Tod, Untergang,
Verlust, Schaden oder Ähnlichem bewahren.


2. alles auflösen, was ich als erstrebenswert kenne.


3. glücklich sein.


im Wald bin ich Fremde*r in der Stille, die alles
hinterlassen hat, das vor mir geflohen ist. zwischen
mir und dem Einklang liegen Kleidungsstücke in
Farben, die die Umgebung nur besuchen, trennen
von den Bäumen und dem Matsch und den Menschen,
die die Welt ohne Pfade kennen. hier ist das Laub
auch im Sommer braun. in meinen Ohren klingelt das
Telefon meiner Eltern und erinnert mich, was ich retten
müsste. wovon ich mich nicht trennen kann: das
Trottenkreuz, die Kirchenglocken im Tal, Notizbücher,
das Geräusch von Sprachen, die ich nicht verstehe.
CDs mit Textheften, fremder Menschen Schrift in alten
Büchern, nächtliches Fahren, Postkarten. ich muss mich
mit der Welt auf einen Klang einigen, der wir alle
werden können; Walgesänge, das Wort „Trauermücken“
oder Schweigen vielleicht. was ich mich frage: wann
jemand zum ersten Mal „Weltschmerz“ gesagt hat, ob
in Höhlen dasselbe Unglück gelegen hätte, wie man
Treibholz wird. ich wäre gerne Sammler*in, aber auf
kurzen Strecken ist mein Atem stärker als der Wind.


Synonyme zu retten: bergen.

 

Zum Monatsthema: bergen

Fanny Walger, *2004, geboren in Bebra, lebt, schreibt und studiert in Marburg. Fanny mag Pu der Bär und wüsste gerne mehr über Vögel; sie schreibt über die Provinz, Gewässer und Heimat und war unter anderem Preisträger*in des 36. Treffens junger Autor*innen und des THEO 2022.

ausgrabung zweier mädchen mit langen fingernägeln

Amely Wernitz
aus Berlin. Jahrgang 2003

im taschenlampenschein steigen wir barfuß ins gras und
folgen dem zittern unserer zehen zum maulwurfhügel.
lass uns graben, sagt janne (janne, die immer so still war).
sie hält die taschenlampe, ich grabe meine finger in die feuchte erde.
papa kämpft für englischen kunstrasen gegen die maulwürfe,
wir haben das erdloch vom balkon gesehen und dachten: rettung.


als das loch immer größer, jannes atem immer kälter wird,
stecke ich erst einen, dann den anderen fuß hinein,
wo wir uns verstecken vor dem auslaufen unserer jugend,
weil unsere zukunft hier nicht dunkler werden kann,
wo wir eine allianz schmieden wollen mit den leichen des gartens.


wir kommen hier nicht mehr raus, sagt janne, fädelt sich zu mir hindurch,
ich nicke, egal, denn regenwürmer schlängeln sich über nackte oberarme.
dann sind wir hier zuhause mit allem anderen, was sterben musste.
wir flechten erde in unsere haare, lecken sie von unseren lippen, bleiben;
meine hände, schließlich, stoßen auf wasser.

 

Zum Monatsthema: bergen

Amely Wernitz, *2003 in Berlin und inzwischen auch wieder dahingezogen. Studiert Geographie, weil die Erde großartig ist und schreibt, weil Worte auch großartig sind. Außerdem begeistern sie: auf Bergen zu sein, Katzen und Fermentiertes. Sie wurde 2022 mit dem THEO Preis für junge Literatur ausgezeichnet und war beim Treffen junger Autor*innen.

 

Schreibe, um zu träumen.