Schlummernde Schätze - Monatsgewinner*innen neu entdeckt: "man in the street" von Kathrin Moll

Tief unten im lyrix-Ozean ruhen schlummernde Lyrikschätze, die nur darauf warten (wieder)entdeckt zu werden. Kai Gutacker, Autor und ehemaliger lyrix-Preisträger, taucht für uns hinab und stellt Gedichte aus dem Meer unserer lyrix-Monatsgewinner*innen vor. Dieses Mal ist es der Text “man in the street” von Kathrin Moll aus dem Oktober 2013.

von Kai Gutacker

Der Oktober 2013 war kein gewöhnlicher Wettbewerbsmonat für lyrix: das Monatsthema „… auf der Straße“ hat die Teilnehmer*innen zu zahlreichen außergewöhnlichen Bildern und Versen inspiriert, sodass allein aus den Oktober-Gedichten drei spätere Jahressieger hervorgingen. Kathrin Moll hat mit ihrem Gedicht „man in the street“ diesen Sprung zwar leider nicht geschafft, dennoch ist ihr ein kleines poetisches Juwel gelungen, das als „Schlummernder Schatz“ auf seine Wiederentdeckung gewartet hat.

man in the street

Kathrin Moll aus Altdorf im Oktober 2013

der fluss aus menschen
windet sich unbestimmtem Ziel
entgegen in einem Bachbett
aus stahl und beton grauem
asphalt und glasfenstern die wie eis
dem himmel zustreben
dazwischen taxis spielfiguren
vollenden die musik der großstadt
straße erleuchtet das leben
von LED’s mit licht kalt-weiß
wie sternenstrahlen

Dass sich unsere heutigen Städte in einem ständigen Fluss befinden, ist an sich kein neues Bild. Die unzähligen Menschen, die sich hektisch durch die Straßen drücken und schieben, tatsächlich als Fluss mit Fließrichtung und eigenem Bett zu beschreiben, allerdings schon. Kathrin Moll nimmt in ihrem Monatsgedicht vom Oktober 2013 die Metapher der „fließenden“ Dynamik der Städte wörtlich und verfrachtet die Menschen kurzerhand in ein Bachbett aus Häusern und Straßen. Es ist ein kühles Bild, das in den Versen gezeichnet wird: Die Glasfenster erinnern an Eis, die LED-Lichter an kaltes Sternenlicht. Dazwischen die Taxis als Spielfiguren, die das Bild des Flusses durchbrechen, genau wie ein zu schnelles Taxi, das nachts an einem vorbeirauscht und den augenblicklichen Gedanken abreißen lässt.

Kathrin Moll gelingt es in aller Kürze und auf wenige Bilder komprimiert, die Atmosphäre einer Großstadt einzufangen. Dabei verliert sie sich nicht in abstrakten Schilderungen, sondern beschreibt unprätentiös die Aspekte des Stadtlebens, die den Leser*innen bekannt sind und mit denen sie sich identifizieren können. Allerdings arrangiert sie diese Details auf eine so originelle Weise, dass wir eben nicht nur die Stadt vor uns sehen – sondern auch den unruhigen Fluss mit seinem Eis, das paradoxerweise „dem Himmel zustrebt“.

Ob Taxi oder Eis – die Metaphorik erfährt immer wieder Brüche, aufgrund derer das Gedicht bildlich entweder zum „Fluss“ oder zur „Stadt“ hin ausschlägt. Dadurch bleibt es selbst dynamisch und in ständiger Bewegung – genau wie das urbane Umfeld, das Kathrin Moll in ihrem Gedicht skizziert.

Kai Gutacker
Kai Gutacker, 1990 in Frankfurt am Main geboren, war lyrix-Preisträger 2008, 2009 und 2010. Er studierte Deutsche und Europäische Literaturen sowie Kulturwissenschaft in Berlin. 2014 nahm er an Juri Andruchowitschs Lyrikprojekt „Erfundene Dichter“ teil. Im August 2016 erschien sein erster Erzählband „Nacht auf die Handfläche“ im Verlag Das Wunderhorn. Derzeit arbeitet er an seinem Romandebüt.

Schreibe, um zu träumen.