Die lyrix-Jahresgewinner*innen 2021 stehen fest

Zum 13. Mal hat der Bundeswettbewerb für junge Lyrik lyrix die Jahresgewinner*innen gekürt: Die Jury wählte aus den 72 Gedichten, die im Vorjahr jeweils als monatsbeste prämiert wurden, die zwölf besten Texte aus.

Wir gratulieren herzlich Ruta Dreyer, Rosa Engelhardt, Selin Eslek, Luka*s Friedland, Rosa Lobejäger, Ronja Lobner, Tara Pfrunder, Lena Riemer, Nora Schalkers, Emma Scharff, Sarah Stemper und Carolin Wittmann!

Zur diesjährigen Jahresjury gehören Malte Blümke (Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise e.V.), Thorsten Dönges (Literarisches Colloquium Berlin), Matthias Gierth (Deutschlandfunk), Norbert Hummelt (Lyriker und Übersetzer), Clara Leinemann (wortbau e.V.), Anja Schaluschke (Museum für Kommunikation Berlin) und Daniela Seel (Autorin und Verlegerin).

Die Preisträger*innenreise nach Berlin mitsamt Preisverleihung, Schreibwerkstatt, professionellem Sprechtraining und weiterem literarischen Rahmenprogramm ist unter den gegebenen Umständen für September geplant.

Hier alle Gewinner*innentexte zum Download:

Musik hören

Ruta Dreyer
aus Hannover, Jahrgang 2002

Ich sitze da also. Mit dem CD-Spieler zwischen den Knien auf einer
schiefen Bordsteinkante.
Ich sitze da. Also mit dem CD-Spieler. Zwischen den Knien auf einer
schiefen Bordsteinkante.
Ich sitze. Da also. Mit dem CD-Spieler zwischen den Knien. Auf einer
schiefen Bordsteinkante. Ich.
Zwischen dem CD-Spieler.
Auf einer schiefen Bordsteinkante ich sitze.
Da also. Mit dem CD-Spieler. Also mit den Knien.
Auf einer schiefen. Zwischen den Knien also mit dem CD-Spieler.
Auf. Ein schiefer CD-Spieler. Ich sitze schief. Da also. Auf. Zwischen.
Zwischen einer schiefen Bordsteinkante, ich da sitze also.
Also schief.
Zwischen den Knien auf einer Bordsteinkante, mit dem CD-Spieler.
Schief.
Also.
Ich sitze.

 

Zum Monatsthema: mein geteiltes Leben

Ruta Dreyer wurde 2002 in Hannover geboren. Dort gibt es Dächer, die Faust und drei warme Brüder. Auf Streifzügen findet man tanzende Menschen aus Polyester und Fleisch.

das letzte mal dass du dich vor mir auszogst war im sommer aber da fühlte es sich nicht so an

Rosa Engelhardt
aus Berlin, Jahrgang 2001

du wäschst ab, es ist übergeschwappt
ich esse noch marmeladenbrot, dick klebt das fruchtgedärm auf sauerteigscheiben
ich lecke es ab, ohne meine zähne zu versenken, streiche immer neue schichten
es plätschert, du machst es schon lange, das wasser ist trüb
aufgedunsen scheuern deine finger essensreste, wohl vom frühstück noch
schlangen, sagst du, schlangen häuten sich, wenn sie zu großgeworden sind,
zu groß für ihre haut
du drehst den wasserhahn, es rauscht
sie häuten sich, sagst du,
und unser größerwerden? nie gehalten irgendwo, nur im vorbeigehen mal gesehen
ich selbst bin fünfzehn striche an dem rahmen mutters tür, danach hab ich aufgehört zu wachsen
du schrubbst ein messer, ich sauge marmelade auf
fünfzehn striche, schlangen wachsen ihr leben lang
ich kratze die reste aus dem marmeladenglas
ihr leben lang werfen sie ihre haut ab, dabei tun sie reibende bewegungen, es geht recht schnell.
die anstehende häutung erkennt man an der augentrübung der tiere, das ganze fängt bei den
lippen an, über die nasenlöcher, augen und den kopf

das geschirr klappert im abtropfgestell
ich hielte gerne meine alten häute in der hand. ich würde sie von der sonne trocknen lassen,
und dann in alten gläsern verschließen. ab und an würde ich sie betrachten und in ihrem gefäß herumdrehen

du bist fertig, deine hände unter wasser, aber du ziehst den stöpsel nicht
schön wären sie, schön und zusammengefaltet, und die sonne würde leicht hindurchscheinen
schlangen, sagst du, und ich weiß, wie gedunsen deine finger gerade sind
zieh dir doch handschuhe an, will ich sagen, stattdessen reiche ich dir das leere marmeladenglas
(ich will nicht in deiner haut stecken)

 

Zum Monatsthema: so leblos & fallen gelassen / nutzlos auch

Rosa Engelhardt, geboren 2001 in Berlin, studiert Biologie und will das machen, was Walter Moers „Wunst“ oder „Kissenschaft“ nennt. Bleibt gerne stundenlang in Supermärkten, ohne etwas zu kaufen. Zieht Inspiration aus Meerestieren, Sonnenbrand und Wandfarbtönen bei Obi. Würde am liebsten alles entstöpseln.

 

Von Spänen

Selin Eslek
Jahrgang 2003

Du wurdest in einer Nussschale geboren, weißt du noch? Hohe
Wölbungen von Schluchten verschluckt noch warm und überzogen von
Weichheit und Gold, erinnerst du dich an die Kerben, in die deine
Kuppen passten, an den Widerstand darin? Da waren Schichten und
Wellen, glatt vom Rutschen darauf und immer ein wenig dämmrig, ein
wenig wie. Wenn man die Füße über die Ränder gestreckt ins Außen
sehen ließ, fing nach den roten Abdrücken in den Kniekehlen die
Freiheit an.  Wenn man in einer Nusschale wohnt, kommt der Himmel
einem manchmal lächerlich vor.
Kennst du noch Grube und Kontur und die Beschaffenheit der Kurve am
Kopfende, fasersplittrig und schillernd, wenn Licht aufkam, und es hat
ja immer irgendwie geleuchtet. Nicht grell, sondern sanftmütig, ein-
und ausatmend, alle Knochen durchdringend behäbiges schweres Licht,
verstehst du?  Wir wussten auch nie, wo es herkam, es war einfach
da, um zu leuchten. Wir haben damals viel gelegen, in diesem Licht,
weißt du noch? Wir haben einfach in unserer Nussschale gelegen und
durch das Licht geschaut. Und manchmal waren wir rutschen.

 

Zum Monatsthema: flee, you fools

Selin Eslek [sie/die/deren], geboren 2003 und nun abiturierend, fing an zu schreiben, als nichts anderes ging und blieb irgendwie dabei. Weitere Texte von Selin sind in Anthologien von lyrix, dem wortbau e.V. und dem Verlag stolzeaugen.books erschienen. Hiermit pflanzt sie liebe Lesende in einen Tontopf, begießt sie sacht und wünscht ihnen noch einen angenehmen Tag.

nein ich werde keine prinzessin heiraten mutter (erster versuch das skalpell in die mother wound zu drücken

Luka*s Friedland
aus Hildesheim, Jahrgang 1999

meine mutter ist die lücke
die sie nicht einhält im supermarkt
meine mutter ist ins private eingedrungen
wieder und wieder und wieder linien verletzt
meine mutter ist das geordnete leben
das ihr gefälligst und doch bitte definitiv und sofort alle nachmachen
meine mutter ist die angst in meiner brust
da wo sie liebe für mich zu (emp)finden glaubt
meine mutter ist hinter dem graben
den wir uns beide gebuddelt haben
meine mutter ist meine verlorene haut
die sie vom balkon fegt am ersten sommertag
meine mutter ist aus den wolken gefallen
ich habe ihren fallschirm durchschnitten
(& es lebt sich so leicht
ohne diagnose
mutter)

 

Zum Monatsthema: meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen

Luka*s Friedland [luka/they] (*1999) studierte kreatives schreiben und kulturjournalismus, medien und theater in hildesheim und schrieb their bachelor*arbeit zu videospielen und visueller poesie. luka interessiert sich u.a. für historische avantgarden, multimedialität sowie artistic research. luka*s fühlt sich oft am wohlsten mit theatertexten.

mama

Rosa Lobejäger
aus Karlsruhe, Jahrgang 2003

deine hände: kalt und fest
übersät
von hundert hellen muttermalen
jasminblumencreme
ölige spuren von schnee und parfüm
der schlaf in deinen augen
krümelt frühmorgens auf den haferschleim


du flickst die risse in meinem weltbild
sanft mit kühlkompressen
du legst mir die hand auf die stirn um meine gedanken schlagen zu hören um mein fieber zu messen
du kannst mich nicht weinen hören ich
dich nicht singen
du löst die glasigen tränen aus dem klammergriff mit steifen fingern


du kannst die stürme in mir nicht verstehen aber du kannst
mich in den arm nehmen mir tee
kochen und ich werde
zitronentränen auf deinen handrücken weinen meine
augen werden brennen du wirst in die dunkelheit flüstern neben mir wach liegen sagen du würdest 
              den schmerz von meiner brust nehmen wenn du könntest und dann werde ich
das atmen wieder lernen wenn ich
breche hältst du mir das rückgrat stark
die kartoffeln warm
ich ziehe deinen pullover an
hochwasser an den ärmeln
im frühling pflanzt du dann
wieder blumen ein


ich sauge ein, genüsslich:
weihrauch und eukalyptus
zimtschnecken im vier-viertel-takt
jasminblumencreme
kräutertee
wurzeln die du vor
jahren
für mich
in deiner hohlen hand
und deiner ohrmuschel
geschlagen hast

 

Zum Monatsthema: mein geteiltes Leben

Rosa Lobejäger wurde 2003 in Karlsruhe geboren, macht gerade ihr Abitur und übt nebenbei das Verlorensein. Mag Kunst im Allgemeinen und Konkreten. Beim Schreiben balanciert sie auf dem schmalen Grat zwischen Emotionalität und Ästhetik – ihr lyrisches Ich kennt sie dabei nur flüchtig.

wissen wollen wer man ist und kläglich daran scheitern

Ronja Lobner
aus Petershagen, Jahrgang 2002

dieser körper ist kriegsgebiet; der in mitten ertrinkt.
der
stirbt in nervenzellen, beißt in den sauren augapfel usw.
blaue flecken bilden sich dann, wenn man mit pulsschlägen
aufeinander eindrescht,
manchmal verstecken es die kleinen
körper hinter schamhaaren.
jetzt: wo er sein schlüsselbein verloren hat, lässt sich auch die blutzelle nicht öffnen.
was auch immer ein körper ist,
das ist es nicht.

einmal hat er blei geschluckt,
um sich selbst  gewicht zu geben.
wollen wir immer noch augenlider singen?
obwohl sich in der netzhaut längst verfangen hat
die faser eines nie geführten gesprächs.


dieser körper ist ab heute autonome zone.
3 cm größer ist er seit gestern
also eindeutig mehr mensch, i guess
auf den handinnenflächen hängen noch reste
der revolution
was auch immer ein mensch ist,
das ist es nicht.

undurchdringlich
wie eine trennlinie
liegt unkonventionell zwischen muttermal und vaterland
rojava selbst
lichtbögen rotieren, untergründe werden sichtbar.
all die ketten könnten atavistisch werden
aber: fahndungsbefehl, nervverzielung usw.
 

also ist es wahr.
 wir brauchen mindestens
        achtzehn jahre, um über fremdkörper zu siegen
und 84 reichen nicht, um herauszufinden, wer wir sind
wärst du so lieb & würdest sein gesicht abziehen
weil er ohnehin zerfällt
hautschuppe, haarsträhne. er verliert sich manchmal im gedankenfluss und wäscht sich aus versehen scham mit ab und hornhaut und sich vllt. auch
              behauptet aber, er wäre immer noch der gleiche (tz tz tz)
Gestern: war er er
                            Heute: ist er er 


                                                      Morgen: wird er er sein

das verstehe ich nicht.

 

was auch immer er ist
Ich bin es nicht
 

Zum Monatsthema: flee, you fools

Ronja Lobner (*2002) – leere am morgen zwischen daunendecke und handysucht; müdigkeit am mittag zwischen falafel und rollerskates; hedonismus an den meisten nachmittagen, mit dosenbier auf dem balkon zwischen diskussionskultur und semikolon, nachts verträumt zwischen rapsfeldern und fachwerkhäusern. analog schreiben. analog leben. poetisiert. (hat schuppenflechte, pickel, fettige haare, halt einen KÖRPER usw.)

klarapfel werden

Tara Pfrunder
aus Winterthur, Jahrgang 1999

I.
heiße tannenspitzen gegen husten,
kalte küchenfliesen gegen bauchweh
für die liebe ein flaschendreh,
wie schwierig kann es sein?
weiterrennen

                                                                                                                                            weitergehen!

und im ernteherbst merken, dass nichts mehr ging.
die weißen blusen sind beim waschen eingegangen.
betriebsfehler.

nachts filme in zeitlupe schauen, der unterschied unklar
zwischen fang-mich-doch und marathon.
was geschah, wenn das spiel vorbei war?
vor 150 jahren hat eine kinderhand maschinenölbefleckt zugeschlagen.
und ob ich jetzt fänger bin, kann ich nicht sagen.

II.
apfel werden heißt anders rollen.
wenn man gepflückt ist, so gibt es nur noch scharfe kanten
und die angst, früh daran den saft verlieren zu sollen.
jedes jahr die felsen bei malta, so steil, so steil
nie mehr reiße ich daran das knie auf, bleibe heil,
nie mehr wie früher geblutet.

aufwachsen ist nicht schwer,
bei der schifffahrt vorbei an der unbewohnten insel
hast du mir den bauch gehalten,
ich ziehe ihn zurück.
jetzt und danach auch.

mit dem dunklen leben, ohne nachttischlampe,
die fragen stellen, ohne antwort
die liebe, kein zauberwort,
wie schwierig kann es sein?
weitergerannt

hiergewesen!

und diesen frühling merken, wie weit es war.
die weißen blätter ein wortstamm zum dasein.
sprache

III.
irgendwo in den linien des apfelbaums
hast du aufgeleuchtet
ob schwarz oder golden,
ich habe dich um die hand gebunden und still getragen.

 

Zum Monatsthema: schon damals immer noch ein kind

Tara Pfrunder, Winterthur, Jahrgang 1999, studiert derzeit Psychologie und Germanistik an der Universität Zürich – Ist schon ein Leben lang fasziniert von der Schönheit der Sprache und findet sich in allen Lebenslagen von Literatur begleitet. Schreibt versuchsweise Lyrik und Prosa, meist dann, wenn sie eigentlich anderes tun sollte.

tag 325

Lena Riemer
aus Langenfeld, Jahrgang 2002

der erste peak meint nicht die neige und ein frost macht keinen
winter. schöne worte formen keine liebe und ein zoomcall keine
zweisamkeit. dieses jahr wohl kälte ohne glühweinausgleich dieses
jahr wohl dunkelheit ohne lichterzug dieses jahr wohl wärme nur von
heizkörpern gefälscht weil die echte einskommafünf abstand hält.
theater ohne vorstellung leeres haus tote bühne vielleicht spielt ein
melancholischer noch seinen monolog zu ende. nein dieses jahr nur
kammerspiele hinter türen hinter fenstern hinter gittern zu erahnen
was die tragödie der zeit wohl darzustellen vermag. vier wände
grenzen die novemberwelt ab die so sicher und doch grau und
tagfürtaggleich scheint. trübe glieder hängen in den raum hinein
baumeln in stickiger luft photosynthese ist zwecklos geworden. das
hier ist mein zimmer das hier ist das bett in dem ich wach liege das
hier ist der tisch an dem ich weine das hier ist der boden auf dem ich
arbeite das hier ist das dokument das meine nerven zusammenhält
(schon seit monaten) das hier ist der peak und nicht die neige.

 

Zum Monatsthema: der erste Peak meint meist nicht Neige

Lena Riemer (*2002 in Düsseldorf) studiert Germanistik und Soziologie ein paar Kilometer abseits der Klinik, in der sie geboren wurde. Hat angefangen zu schreiben, weil es das Einzige war, was Sinn machte (ist es bis heute). Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, ansonsten auch immer wieder auf kleinen Lesungen auffindbar.

sonnenumwandelt

Nora Schalkers
aus Villingen-Schwenningen, Jahrgang 2004

damals wollte ich steinesammlerin werden.
über felder streifend sammelte ich all
ihre mineralischen melodien jede
aus vollkommenerem lachen verdichtet,
das ich fing

damals, die hände gelb von löwenzahn,
war die welt groß und
der regenbogen
unendlich.

doch wenn ich jetzt traumschatten
einfange, mittagsstille, magnolienhaarspray
der geruch der regentonne, barfuß
(einen versuch wars wert)

sehe ich nichts als salzverkrustete
träume, andeutungen von lachen aus
unendlichen gelben erschrumpfend,
überreife supernovae, amorph,
goldversprenkelte illusionen

implodierend.

verwanderte sommer sich durch alte
staubschichten hindurchkämpfen, wundersame
schimmel zitierend, pilzgerüchig doch blind
staub: der schnee der jahre
flusenweiche schneeballschlachten

aus abgestorbenen hautzellen,
haare,
hier und da
unterm bett.

ich bin dabei, meinen rost abzukratzen, wenn ich
meine hand lecke, schmecke ich eisenzaun

und immer wandeltrunken träume
ich dort am schattensaum
traumtrüb, sich nadelnder
niederschlag im reagenzglas: AgBr
ich singe immer in kristallen.

ich gebe mein bestes doch
meine alten tiefen werden
seichter und meine fernen
erreichbarer.

also singe ich hier, frustriert,
und ich hätte gern
sturmwellendröhnen,
gegen das ich anschreien könnte.

aber da sind nur bäume,
die nagen am blau des himmels.

das netz der spinne am
dachfenster ist klöppelspitze
an der wäscheleine, hoffnung
ist manchmal undankbar aber
in keinem fall

unerreichbar.

ich gehe weiter, immer weiter.
tränenden traumhülsen zum trotz.
schon damals immer noch ein kind und
auch heute

irgendwie.

ich gehe,
gehe am schattensaum
der hauswand.

den die spatzen lügen strafen.

sonnenumwandelt.

 

Zum Monatsthema: schon damals immer noch ein kind

Nora Schalkers, Schülerin in Villingen-Schwenningen, geboren 2004. Schreibt gern über Erinnerung und andere Gedankenfragmente. Mag alte Bücher, spannende Etymologien und Spaziergänge in der Natur. Und Tiere – von der Schnecke bis zum Turmfalken kann sie alles in Euphorie versetzen.

meine mutter in drei stücken

Emma Scharff
aus Berlin, Jahrgang 2001

der mann nimmt meine mutter auseinander
sachte stück für stück für stück
und je schallender sein lachen nach den witzen
desto länger die stille der kinder am tisch
desto kleiner die stücke der mutter

morgens,
der körper meiner mutter sitzt dem mann gegenüber
er redet und sie nicht
berührt mit seiner ihre hand
in ihren augen spiegelt sich sein lachen
in seinen nicht mehr als ihr gesicht
sie sieht in seinen lippen ihre jugend
gleichermaßen dünn wie kurz
sie gibt sich dem hin an was er sie erinnert
wenn er sie bei ihrem zweiten namen ruft

aus versehen fallen ihr die augen zu
er zieht sie an der lehne ihres stuhls zu sich
herüber

mittags,
die hälfte meiner mut – ter sitzt
vor dem mann am tisch
windet die arme um seine versprechen
den rest von ihr hat er verschlungen
verspürt hat sie dabei ein stechen in der wange
und seinen atem heiß und rau
die überbleibsel ihrer angebrochenen gedanken
spuckt sie ihm heimlich vor die füße
ein beweis von frau zu raum

der mann verschluckt sich an seiner halben anekdote
als die lehne seines stuhls erst bricht
und dann zerfällt
nun liegt sie mit den glasscherben
unterm tisch

abends,
ein viertel meiner mtr sitzt
neben dem mann auf dem tisch
ein glas rotwein in der hand
seine arme greifen nach ihr
drücken sie fest an seine brust
zerquetschen achtlos die versprechen
sie werden zu gier
in der hastigen skizze seiner lust
auf der suche nach seiner eigenen wichtigkeit
gießt er ihr neue schlucke ein
und säuselt ihren zweiten namen

als der mann nach einer neuen flasche greift
findet er die stücke meiner M u tte r      
neben dem begonnenen abwasch     
in der küche

 

Zum Monatsthema: meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen

Emma Scharff, Jahrgang 2001, hängt in der Berliner Luft, mal fester, mal weniger fest. Sie starrt oft zu lange Menschen auf Partys oder in U-Bahnen an, bis es unangenehm wird. Darüber schreibt sie zum Beispiel. Aber auch über Mütter und frisierte Gedanken. Manchmal erzählt sie davon auch auf der Bühne. Sie schaut auch gerne Dingen zu, die auf Bühnen passieren, mag lautes Jubeln, Freestylen, Worte feilen, Denkpausen, Ankommen und Abhauen. Sie findet, dass viele Dinge auf der Welt eigentlich mehr Platz bräuchten, wie zum Beispiel Irrationalität.

von der nacht einvernommen werden – aber darüber spricht man ja nicht

Sarah Stemper
aus Köln, Jahrgang 2001

die kois treiben unter der kopfsteinpflasterpiste träge
fühle ich mich
hast du benutzt und weggeworfen
rolle ich da jetzt ungebremst runter
begleitet mich der schnee
in den abgrund der anthropologie
entspricht das nicht was du mir angetan hast

du es mitbekommen
amtsschimmelpferde glauben mir nicht
die milch verschütten
wir unsere träume unter dem bergwerk der „ (gute) nacht!“
singen die glühwürmchen parodistisch
leuchten sie im morsecode
tümmeln sich kommunikationslücken
so wird die schwarze nacht auch
nicht mehr heller

kann ich mein handy stellen
wir uns vor google maps könnte orientierungslosigkeit im leben
entgegenwirken
kann ich den bildern aus der vergangenheit kaum
ergeben sie einen sinn
in meinem wörterchaos zu finden ist schwierig denn

wenn du deine zunge in meinen rachen steckst
mit wessen speichel spreche ich dann überhaupt noch?
wenn sich deine fingernägel in meine moleküle einkratzen
gehöre ich dann dir?

du hast meinen namen in den wind
geschrieben
steht: wind hat kein gedächtnis und kein zeit
gefühl
interpretiert der duden
zu leichtsinnig
habe ich dir
vertraut

nun bebt die straße mit meinen ekzemlippen um die wette.

(mein kopf macht sich schön als flummi er hinterlässt sogar splitter dabei)

wann ist der richtige zeitpunkt zum weinen?

(cherié kois erfrieren ohne mantel)

 

Zum Monatsthema: deine zitternde Handschrift flickt die Gegenwart

Sarah Stemper, geboren 2001, versucht sich in Köln an einem Wirtschaftsjournalismus-Studium. Versucht auch, täglich die Welt ein Stückchen mehr zu verstehen – in dem Wissen, dass Sarah sie nie verstehen wird. Manchmal ist ihr das alles aber zu real und unverschnörkelt. Greift dann zu Lyrik. Schon vor Corona drehten sich ihre Texte vor allem um zwischenmenschliche Distanz (bei gleichzeitiger Nähe).

warum man in online-formularen in der namenszeile keine zahlen eingeben kann

Carolin Wittmann
aus Salching, Jahrgang 2000

und während ich ihrer stimme durch den dünnen türspalt der weißen tür mit dem großen buchstaben                                                                      T lausche

komme ich einfach nicht darauf, warum sie glaubt, dass ein besuch bei ihrem ach so tollen

        heilpraktiker mich über 50 kilo wiegen lassen würde (oder warum das wichtig wäre)
so rolle ich hin und her
auf ihrem ach so gesunden quietschtürkisen gymnastikball
halte die luft an
halte mich selber an
halte die welt an
und das erste mal in vier jahreszeiten klappt es
dass ich
nicht mehr da bin
oder genau so da bin
wie die klamotten die kreuz und quer im raum explodiert sind
auf der vorhergegangenen suche nach etwas
das mir noch passt
mein leben
ist mir ein paar nummern zu groß

und als ich da hänge
mich blass vom türkis abhebend
bin ich nur noch ein fetzen haut und knochen
wie das tshirt ein fetzen baumwollstoff und nähte
die hose ein fetzen leinen ist
und genauso bin ich das perfekt formbare auftreten im alltag
wie die klamotten es für die leute sind
die sie sich extra dafür kaufen müssen

und das erste mal in vier jahreszeiten klappt es
dass nur mein Ich im raum schwebt
doch was ich sehe
verstehe ich nicht
weil es mir nicht gefällt
ich bin von lauter fäden umgeben
die an den nähten, am saum, auf den seiten heraushängen
und flecken

in den tshirts ketchup
auf den hosen kaffee
und ich verstehe nichts mehr
weil ich in meinem kopf
vor lauter geschichten die die klamotten mir vorlesen
fast erdrückt werde
und ich verstehe nichts mehr
weil alles zerknittert ist
und erst dadurch so bunt wird
die schatten die sich in den falten einnisten und eine berglandschaft aus dem wunderland erzeugen
wieso wollte ich dann
mein ganzes leben lang
so perfekt glatt sein
wessen idee war das denn

und das was mit mir geschah
war nicht ich
das was mich in die höhe schleuderte
mir die klamotten anzog
die schuhe an die füße klebte
und mama beim rausfegen die telefonschnur vom finger zog
das war nicht mehr ich
denn ich
wollte es nicht mehr sein
wollte mehr sein

Von jetzt an
Will ich keine Größe 30 sein
Von jetzt an
Bin ich Tamara

 

Zum Monatsthema: warum man in online-formularen in der namenszeile keine zahlen eingeben kann

Carolin Wittmann studiert Medienwissenschaften in Regensburg, Jahrgang 2000 – Zeichnet gerne Bilder mit Wörtern oder erzählt anhand Bildern Geschichten über die Vielschichtigkeit des Lebens und ihre Liebe dafür. Auffindbar auf Filmsets oder in Cafés, deren Passanten sich in ihre Texte verirren. Fasziniert von Wahrheit und Subjektivität, sowie der simplen Frage nach der Beschaffenheit von Glück.